Verpasst
Hals über Kopf stürze ich mich in das nächste Abenteuer. Ich heirate den ersten Mann, den ich liebe. Weißes Kleid, Hochzeitstorte. Schließlich kommen die Kinder, eins, zwei, drei, dann Kindergarten, Schule, Geburtstagsfeiern, alles zum rechten Zeitpunkt, wie ich es mir stets ausgemalt hatte; als Kind in einem bunten Himmelbett liegend und mir rosige Gedanken über meine Träume machend.
In der Jugend will man alles erleben, ein Teil von allem sein, das wollte ich natürlich auch, immer mit dabei, Partys, Freunde, dann erstmal die Welt bereisen, Australien, USA, Europa, so wie es jeder tut, weil man sich in fernen Ländern angeblich selbst besser kennenlernt. Später Psychologie studieren und Job mit Aufstiegschancen suchen.
Nirgendwo zusehen. Immer dabei sein. Nichts nicht tun.
Hals über Kopf erlebe ich alles, was ich je erleben wollte. Plötzlich bin ich mitten drin, mitten im Abenteuer, mitten in Problemen, mitten im schwungwollen Kreislauf des Lebens. Nicht die Zeit kommen lassen, sondern ihr entgegenlaufen, das wollte ich immer.
Doch ich lief nicht, ich rannte und verrannte mich in der Zeit, bis mein Leben plötzlich ruiniert ist, denn auf einmal bin ich alleine, Kinder längst ausgezogen, Mann gestorben und mir wird bewusst, dass ich nie nachgedacht habe, was ich wirklich will.
Ich habe einen Mann geheiratet, der so früh eigentlich noch nicht heiraten wollte; ich habe viele Länder bereist, ohne zu merken, dass ich dadurch mein Zuhause aus den Augen verloren habe; ich habe mich von all meinen Freunden beeinflussen lassen, um ein Teil von ihnen zu sein, ohne wahrzunehmen, dass ich mich selbst nie gefunden habe; ich habe früh eine Familie gegründet, ohne auf den richtigen Zeitpunkt zu warten. Ich dachte, ich könnte so glücklich werden, doch auf solcher Basis funktioniert Glück nicht.
Ich wollte alles immer genau dann, wenn mein Verstand es verlangte, ohne auf mein Bauchgefühl zu hören, und wollte unbedingt die Vorstellung meines Lebens leben, ohne zu bemerken, dass dieses zerbröckelte, je fester ich zupackte.
Manchmal wenn ich mich am Morgen im Spiegel sehe, verabscheue ich mich dafür, in mein Leben Hals über Kopf hineingestürzt zu sein; mit dem Gedanken, nichts zu verpassen und dabei doch alles verpasst zu haben.
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