Verschlossene Augen
Ich liebte deine Augen. Deine Augen, so strahlend wie die Sonne selbst. Ich liebte deinen Frieden. Deinen Frieden, so unerschütterlich wie die Berge von Karakorum. Eigentlich liebte ich alles an dir. Liebte. Jetzt bist du nicht mehr da. Du wurdest von ihnen mitgenommen, sie sagten, sie würden dich zurückbringen. Das taten sie auch. Aber mit Augen, so trüb, so leer wie die Sonne, die sich hinter Wolken versteckt. Mit langem, zerzaustem Haar, das das Leid, das dir geschehen war, als eigene Geschichte erzählte. Nie wieder kann ich dich lachen sehen, nie wieder kann ich dir sagen, wie wichtig du mir bist.
Diese Chance habe ich schon verpasst, als ich dich das letzte Mal lebend gesehen habe. Seitdem ist alles anders. Wie Roboter marschieren sie Tag für Tag durch die Straßen, stehlen das Letzte, was uns bleibt. Aber wohin sollten wir denn verschwinden? Sie waren es doch, die die Grenzen geschlossen, die unser Geld genommen hatten. Das war es doch, was sie immer wollten! Trotzdem schlossen sich so viele ihnen an, aus purer Angst, was ihnen getan werden könnte. Weißt du noch, als unsere Eltern uns erklärt hatten, wir dürften die eigenen Ängste nie über uns walten lassen? Genau das ist ihnen passiert. Ihre Angst kontrollierte sie. Sie verbrachten Tag und Nacht damit, zu zittern, ihre Hoffnungen hatten sie schon längst aufgegeben. Dann, eines Morgens, erzählten sie mir, sie würden sich ihnen anschließen. Sie hielten diese Angst nicht länger aus, ich sollte mit ihnen gehen, dann würde endlich alles besser werden. Doch ich folgte ihnen nicht und es wurde nichts besser.
Es geschah kurz nach Sonnenuntergang. Alle waren, wie an jedem Markttag, am Platz versammelt, jener erschien mir sogar friedlicher als sonst. Bis ein Schuss diesen Frieden in tausend Stücke sprengte. Da sah ich ihn. Er stand direkt neben dem leblosen Körper meiner Mutter, ihr Gewand durchtränkt von dunkelrotem, dickflüssigem Blut.
Ich verstehe immer noch nicht, was diese Leute mit Vater gemacht haben müssen, damit er Mutter so etwas antun konnte. Ich weiß auch nicht, ob dich diese Worte da oben jemals erreichen werden, aber ich will, dass auch du weißt, dass ich mich nicht länger unterdrücken lassen werde. Früher habe ich mich immer gefragt, wie lange wir das noch durchhalten können. Können wir das noch? Können wir diese Verletzung gegen jedes Recht, das dem Menschen zusteht, einfach auf uns sitzen lassen? Nein. Das, was Mutter geschehen ist, hat mir endlich die Augen geöffnet, mich gezwungen, das zu sehen, was ich nicht sehen wollte.
Diese Qual, diese andauernde Angst haben wir schon lange genug durchgestanden. Ich weiß mit Sicherheit, dass ich nicht die Einzige bin, die so denkt. Es gibt bestimmt noch mehr da draußen, denen die Augen geöffnet wurden oder die so klug waren, sie gar nicht erst zu verschließen. Und genau die werde ich finden. Dieser Brief geht an alle, die mit der Qual des Krieges zu kämpfen haben. Dies ist nur der Beginn. Das Ende der Unterdrückung und der Beginn des Widerstandes.
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