[Ver]Zähler
I. Den Weg hierher kenne ich schon gut. Die Anzahl der Schritte auch. Ich zähle sie immer, wenn ich zur Haltestelle gehe. Es sind fünfhundertdreiundachtzig, nicht mehr und nicht weniger. Die Bushaltestelle kenne ich auch gut. Und die Anzahl der Pflastersteine. Achthundertvierzig sind es. Dich kenne ich nicht, du bist noch nie auf der Bank gesessen. Ich zähle deine Sommersprossen. Einhundertelf. Du lächelst. Ich zwinge mich zurückzulächeln. Der Bus kommt. Er ist zwei Minuten zu spät dran.
II. Du lächelst mir immer zu, wenn ich zur Haltestelle komme. Ich lächle zurück, aber ich mache es nicht gerne. Lächeln mag ich nicht. Du scheinbar schon. Wenn der Bus stehen bleibt, dann stehst du immer schnell von der Bank auf. Vielleicht hast du Angst keinen Sitzplatz zu bekommen. Du steigst nämlich nie als Letzte ein, die Letzten bekommen selten freie Plätze. Manchmal, wenn der Bus mehr als fünf Minuten zu spät kommt, dann fluchst du zischend.
III. Ich zähle jeden Tag deine Sommersprossen. Es ist immer eine andere Zahl, auf die ich komme. Von Tag zu Tag werde ich nervöser. Ich kann mich doch nicht ständig verzählen. Du lächelst mich noch immer an, aber ich lächle nicht mehr zurück. Ich bin böse auf dich. Weil sich deine Sommersprossen nicht richtig zählen lassen.
IV. Irgendwann dann platze ich, aber innerlich. Du siehst es nicht. Ich muss endlich wissen, wie viele Sommersprossen wirklich auf deinem Gesicht sind. Neben dir auf der Bank ist ein Platz frei. Du sagst „Hallo“, und ich setze mich schweigend neben dich. Kurz kreuzt sich unser Blick.
V. Deine Sommersprossen kann ich jetzt besser zählen. Manchmal streifen mich deine nervös umherhuschenden Augen. Ich bemerke es, aber ich kümmere mich nicht darum. Muss deine Sommersprossen zählen. Als der Bus kommt, willst du aufspringen. „Warte“, sage ich, „Können wir noch ein wenig hierbleiben? Ich muss fertig zählen. Deine Sommersprossen. Damit ich weiß, wie viele es sind. Das ist wichtig.“
VI. Du gehst, mich ignorierend, zum Bus. Diesmal kein Lächeln für mich. Bevor du einsteigst, drehst du dich zu mir um. „Das hängt davon ab, wie viele ich mir aufmale. Morgens.“ Die Bustür schließt sich zischend hinter dir. Er fährt mit einer Minute Verspätung weiter.
VII. Du sitzt nie wieder auf der Bushaltestellenbank. Aber das ist mir egal. Ich weiß jetzt, dass ich mich nie verzählt habe.
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