Vielleicht ja morgen
Die Häuser zogen hinter der Seitenscheibe vorbei, ebenso Felder und Wiesen, Bäume und Straßenschilder. Ich hatte den Kopf an das Glas gelehnt und beobachtete die Landschaft, die das Auto - und ich darin - durchquerte. Ich versuchte mit dem Blick an etwas festzuhalten, doch das Auto fuhr so schnell, dass die Konturen vor meinen Augen verschwammen.
Ich strengte mich an, mich auf etwas Neutrales zu konzentrieren. Jeden Tropfen Aufmerksamkeit, die ich meinen Gefühlen gab, könnte das Fass zum Überlaufen bringen.
Eine rote Ampel brachte das Auto zum Halten. Der rote Kreis schien grell durch das zarte Morgenlicht und fing sich in den kleinen Wassertropfen auf der angelaufenen Windschutzscheibe.
Mein Vater saß neben mir auf dem Fahrersitz. Mit den Fingerspitzen trommelte er auf dem Lenkrad im Rhythmus des Songs, der leise im Radio gespielt wurde.
Bereits den ganzen Morgen kämpfte ich mit der Panik in mir, die mich zu überwältigen drohte. Mit jedem Meter, den wir uns der Schule näherten, breitete sie sich ein Stück weiter aus. Mit aller Kraft versuchte ich sie zurückzudrängen, denn ich durfte auf keinen Fall die Kontrolle darüber verlieren. Meine Mutter würde mich wieder zu einem Therapeuten fahren, meine Eltern hätten wieder Sorge und Stress.
Mein Vater manövrierte den Wagen um die nächste Kurve. Gut gelaunt summte er die nächste Strophe des Liedes mit.
Es gelang mir nicht mehr, meine Gedanken zu kontrollieren. Alles, woran ich denken konnte, war die Angst, die sich einen Weg in meinen Hals erkämpfte und sich dort in einem schweren Kloß festsetzte. Unaufhaltsam fuhr das Auto weiter. Ich zuckte zusammen, als es plötzlich stoppte. Meine Finger krallten sich um den Riemen meiner Tasche. Ich versuchte tief durchzuatmen, doch meine Kehle war wie zugeschnürt.
Ich spürte den fragenden Blick meines Vaters auf mir. „Du musst jetzt aussteigen, ich stehe im Halteverbot“, sagte er auffordernd.
Es war, als würde in diesem Moment alles auf mich einprasseln. Die unerklärliche Panik, die mich seit Jahren begleitete, erfüllte mich wieder einmal endgültig. Ich hatte mir vorgenommen mutig zu sein, doch jetzt konnte ich mich nicht rühren.
Mein Vater atmete angespannt aus. „Bitte“, fügte er dann hinzu. Stumm schüttelte ich den Kopf. Ich konnte nicht antworten, die Worte blieben mir im Hals stecken.
Nach wenigen Sekunden seufzte er schließlich, trat aufs Gas und reihte sich wieder in den Verkehr ein. „Wir können dich nicht noch länger zu Hause lassen“, murmelte er, als er das Auto wieder zurück auf die Hauptstraße lenkte. Ich wusste, dass er recht hatte, doch es hörte sich fast wie ein Vorwurf an.
Ich wandte den Kopf ab und erhaschte einen letzten Blick auf das Schulgebäude, das im Rückspiegel immer kleiner wurde. Der Druck auf meiner Brust ließ Stück für Stück nach. Ich holte tief Luft. „Vielleicht schaffe ich es ja morgen wieder, zur Schule zu gehen“, brachte ich schließlich hervor. Mein Vater blickte starr geradeaus und nickte langsam. Im Auto wurde es still.
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