Vision
Am Rand der Straße saß ein kleines Mädchen, vielleicht sieben Jahre alt, ich wusste nicht wer sie war. Ihre Kleidung war zerfetzt und schmutzig. Man konnte schon von weitem den Schmerz in ihrem Schluchzen fühlen. Sie saß da alleine, verlassen und angsterfüllt. Was ist passiert, wie kann ich helfen, was kann ich tun?
Bevor ich etwas tat, war das unbekannte Mädchen schon verschwunden. Es fing an in Strömen zu regnen und es wurde langsam dunkel. Eine Weile lang, versuchte ich sie zu finden, erfolglos. Mit bis zur Haut durchnässter Kleidung ging ich nach Hause. In dieser Nacht konnte ich nicht einschlafen, obwohl ich sehr ermüdet nach der langen Suche war. In meinem Bett sitzend hörte ich den Regen durch das gekippte Fenster. Mir gingen viele Gedanken durch den Kopf, ich sah das Mädchen, das kleine Kind wieder vor meinen Augen. Weshalb konnte ich ihr nicht helfen, ihr eine Hand reichen, sie in den Arm nehmen? War ich zu feig?
Irgendwann muss ich schließlich doch eingeschlafen sein, denn plötzlich riss mich etwas aus dem Schlaf und ich bemerkte Tränen in meinen Augen und Schweißperlen auf der Stirn. Ich erinnerte mich, dass es sich in meinem Traum so anfühlte, als sei ich das Mädchen und erlebte ihre Vergangenheit hautnah. Mehr noch, es war als hätte sich die Geschichte des Kindes auf mich übertragen.
Langsam fiel mir alles wieder ein. Sie spielte auf einer Wiese, es war eine karge Landschaft, ihre Spielsachen waren alt und sehr beschädigt, trotz dessen sah man ihr die Freude an. Ihre Mutter rief sie zu sich, das Mädchen half ihr bei dem Vorbereiten des Essens, es schien der normale Alltag einer armen Familie zu sein. Jedoch kam es anders, ich bemerkte dass ich nicht in einem typischen Armenviertel war, sondern in einem mit stacheldrahtzaunumringten Art von Lager war. Ich verstand nichts mehr, trotzdem verfolgte ich das Geschehen weiter. Das Kind ging spät zu Bett. Frühmorgens lief das kleine Mädchen aufgeregt nach draußen. Es schien kein normaler Morgen zu sein. Dann sah sie etwas was sie nie im Leben hätte sehen dürfen.
Sie sah wie Menschen gezwungen wurden in Busse einzusteigen, einer von ihnen wehrte sich. Der Mann wurde schließlich genötigt mit einem Soldaten mitzugehen. Kurz darauf war ein lauter Knall zu hören und der Soldat kam mit einem großen Blutfleck auf seiner Uniform zurück. Das Mädchen verstand sofort was passiert war, der Mann hatte ihren Vater erschossen.
Bis heute erinnere ich mich an diese Nacht, an diese Vision. Ich hatte mich verändert, ich zögerte nicht mehr, ich schritt gleich zur Tat. Ich packte meinen Regenschirm und ging erneut auf die Suche. Das Wetter war noch schlechter als am Vortag. Stundenlag lief ich im Regen umher, durchsuchte jede Gasse, jeden Winkel. Es wurde wieder dunkel und ich dachte bereits an den Heimweg, da stand das Kind auf einmal einfach vor mir, als ob es auf mich gewartet hätte. Ich gab ihr zu essen und warme Kleidung. Danach begann es zu erzählen, was geschehen war. Jedes Detail stimmte überein.
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