Vom Sterben und seinen Nebenwirkungen
Anni zuletzt online um 13: 37 Uhr
Ich: Und gibt’s was Neues bei dir?
Anni: Ich hab mich verliebt…
Ich: Scheiße!
Anni: Ja
Anni zuletzt online am 09. 11. 2012
Ich: Anni? weilst du noch in deiner physischen Hülle? Ich habe lange nichts mehr von dir gehört…
~
Anni: Hast du gerade Zeit? Ich muss was loswerden
Ich: Klar
Anni: Lola wollte mich heute dazu überreden, wieder einer nutzlosen Vergiftung meines Körpers zuzustimmen. Wir haben uns gestritten, als ich ihr gesagt habe, dass ich das nicht will. Was soll ich denn jetzt machen? Ich kann nicht ohne sie und jetzt stößt sie mich von sich. Sie meinte, sie hat genug von meiner Hoffnungslosigkeit…
Ich: Sie versteht dich leider glücklicherweise nicht so wie ich. Bei dir ist die Hoffnung auch verloren, auch wenn sich deine Liebsten das nicht eingestehen wollen. Erst wenn sie das tut, erkennt sie, wie sehr du sie jetzt brauchst. Erklär es ihr. Versuche es zumindest. Vielleicht hilft es. Ich weiß auch nicht…
Anni: Ok
~
Berlin, den 12. 12. 2011
Liebe Anni,
vielleicht antwortest du, wenn ich mit dir auf diese Weise Kontakt aufnehme. Die Chemiekeule schlägt laut meinen Ärzten gut an, besser fühle ich mich aber trotzdem nicht. Je fortschrittlicher die Medikamente sind, desto mehr stirbt das Selbst des Menschen. So fühlt es sich also an als Nebenwirkung des Sterbens. Wir verändern uns mit der Krankheit (wohl mehr durch die Krankheit selbst) und ziehen alle in unserem Umfeld unwillentlich mit in diesen unermüdlichen Prozess. Meine Eltern werden wohl nie wieder die sein, die sie vorher waren. Und schuld bin ich. Der Krebs ist ein Teil von mir, wie ich ein Teil von ihm bin. Aber genug der traurigen Worte, derer ich müde geworden bin. Was ich dir eigentlich mitteilen wollte, ist die Erkenntnis der Monotonie des Lebens. Ist es nicht verrückt, dass wir schon in jungem Alter in Bildungseinrichtungen gesteckt werden, um später von einer vermeintlich sozialen Regierung das hart erarbeitete Geld aus den Händen gerissen zu bekommen. Wir leben, um ausgebeutet zu werden. Das ist der einzige Zweck des Lebens. Schon tragisch, dass dieser unendliche Kreislauf auch ohne uns funktionieren wird. Doch müssen wir das Positive einmal genauer betrachten. Denn durch die Mutation des Todes sind wir die Glücklichen, die vor dem tristen Alltag entfliehen können. Wir haben das Privileg, früher zu sterben und leider aber auch alle anderen in diesem Trott zu lassen. Ich bin bereit zu gehen, bist du es auch?
Lübeck, den 03. 01. 2012
Frohes Neues.
Ich kann dir nur zustimmen und auch ich bin bereit. Ich werde mich nicht länger der Angst hingeben, den Prozess des Sterbens aufzuschieben. Ich will es nicht mehr und habe genug vom Leben oder eher von den Menschen, die mich täglich bemitleiden, obwohl ich das selbst ganz gut kann. Lola leidet am meisten. Ich wusste es, aber ich bin egoistisch, was ich glaube ich auch sein darf. Apropos: Glaubst du, die Welt geht dieses Jahr wirklich unter?
Anni zuletzt online am 08. 01. 2012
Ich: Ich hoffe es.
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