„Vom Zwischenzeilensehen“
Sieh dich um und sag mir, was du siehst.
Erzähl mir alles. Zeig mir jede kleine Blume, jedes Blatt.
Zeig mir, was dir gefällt, welche Musik du gerne hörst. Zeigefinger auf die Lieblingsfarbe.
Und dann lies zwischen den Zeilen.
Zeig mir, was du siehst, da zwischen den Zeilen.
Summe leise die Melodie, die von dieser Leere ausgeht, sag mir, was da laut dir steht. Denn ich sehe es nicht. Ich sehe nichts dazwischen und doch so viel.
Sprache, mit der wir uns näherkommen, führt dazu, dass wir uns verlieren. Führt dazu, dass wir uns distanzieren, was für ein Paradoxon.
Sag mir, bist du es nicht leid, hörst du es nicht? Wenn „ich liebe dich“ gar nicht so ist, wenn die Leere lauter ist als was du sagst, denn das ist sie immer.
Hörst du die Leere schreien, wenn die Gesellschaft dir den Mund verbietet, wenn du dich nicht ausdrückst? Wenn du nicht sagst, was du denkst, weil du es nicht sollst. Ich will, aber soll nicht, ich soll, aber will nicht, ich passe nicht hinein. Nein, ich passe nicht hinein in dieses morsche Gerüst, das sich Gesellschaft nennt. Ich will in keiner Welt leben, in der Normen lauter sind als Individuen. In der Männer bunter sind als Frauen, in der Leere groß ist. Menschen reden so viel, aber sie sagen nichts. Eigentlich recht trist, wenn die Leere sagt, was du nicht sollst. Wir sollten alle mehr auf die Leere hören, aber können wir? Sag, wer bringt es uns bei? Jede Norm, die wir erfüllen, drückt uns tiefer hinab, ich bin’s so leid. Können wir das noch ändern? Können wir die Welt noch ändern, sag mir, kannst du? Wie kannst du für Themen brennen, die längst niedergebrannt sind, auf Sachen zeigen, aber die Leute sind blind, sagst du. Ich sag nein, sie sind nicht blind, sie sind taub.
Wieso stehst du auf am Morgen? Und wieso tu es ich? Woher nimmst du die Kraft dazu?
Orangensaft, sagst du. Und die Leere sagt wieder einmal mehr, nicht Orangensaft, nein, sondern warmes Wetter. Hörst du sie nicht zwischen den Zeilen, die warme Brise? Hörst du sie nicht, die Hoffnung? Die Hoffnung auf warmes Wetter, auf warme Menschen, auf warme Herzen? Hoffnung, welch warmes Wort.
Aber was machst du, wenn es kalt ist? Wenn der Winter dich einholt, und sich alles wiederholt? Alles wiederholt sich. Wir haben 2019 und noch immer müssen Frauen für ihre Rechte kämpfen. Wir haben 2019 und noch immer gibt es Krieg. Wir haben 2019 und noch immer so viel Rassismus, so viel Hass. Wie können wir das noch stemmen? Sag mir, wie kannst du dafür noch brennen, wenn sich doch alles immer wiederholt?
Hoffnung, sagst du. Hoffnung, denke ich, gibt es sie noch? Ja, solange Menschen träumen, hoffen sie, aber träumen? Können wir das noch? Können Sie das noch?
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX