Von der Geschwindigkeit der Zeit
Ich erinnere mich gerne an einen Sommertag vor vielen Jahren. Es war der letzte Sonntag vor meinem ersten Schultag und ich hatte mir vorgenommen, so früh wie möglich aus dem Haus zu kommen. Noch vor Sonnenaufgang. Um so viel wie möglich vom Tag zu nutzen.
Ich weiß nicht, warum mir dieser Morgen so klar im Gedächtnis geblieben ist. Aber ich erinnere mich noch genau daran, wie die ersten Sonnenstrahlen sich wie Honig über die Dächer der Stadt ergossen. Der Rest des Sommers ist nur noch eine Reihe schier endloser Sommertage, die auf endlose Sommertage folgten. Aber in meinem Gedächtnis verschwimmen sie alle ineinander.
Als ich sechs Jahre alt war, bekam ich von meinem Zahnarzt eine Sanduhr geschenkt. Damit ich mir endlich lange genug die Zähne putzte, hat er mir erklärt. Ich habe sie mir früher immer wieder angeschaut und versucht zu zählen, wieviel Zeit mit jedem fallenden Sandkorn verging.
In meiner neuen Klasse hing dann eine Uhr, die ich nicht verstand, bis die Lehrerin uns einige Wochen später erklärte, wie man sie lesen sollte. Einige Monate später bekam ich einen Wecker neben mein Bett, dessen Ticken mich ewig lang nicht einschlafen ließ. Ich habe ihn irgendwann aufgebrochen, um die Zeit darin zu suchen, die ihn ja offenbar antrieb. Aber ich habe nur sein Uhrwerk gefunden.
Doch die Zahnräder des Weckers, die der Wanduhr in meiner Klasse und die der Uhr in unserer Küche verhakten sich in den Tagen, Sekunden und Minuten und zogen sie weiter voran. Immer schneller und schneller. Die Wochen vergingen wie im Flug und je mehr sie sich mit Aufgaben, Terminen und Deadlines füllten, desto mehr nahm ihr Tempo zu.
Zu meinem nächsten Geburtstag bekam ich eine Armbanduhr geschenkt, wegen der ich mir irgendwann angewöhnte, alle zehn Minuten auf mein Handgelenk zu schauen. Im nächsten Sommer zählte ich die mir verbliebenen Tage der Ferien auf dem Kalender meine Mutter tägliche nach.
Die Wochen und Monate rannen mir wie der Sand meiner Sanduhr durch die Finger -immer schneller und schneller. Irgendwann habe ich geglaubt, dass ich nicht mehr nachkomme. Dass ich mit leeren Händen dastehen würde und feststellen müsste, dass mir die Zukunft entwichen war und mich zurückgelassen hatte. Aber der Tag ist nie gekommen. Nicht dass es an Möglichkeiten gemangelt hätte. Die Liste meiner verpassten Termine, vergessenen Aufgaben und nicht erfüllten Deadlines war endlos.
Und heute morgen weckt mich mein Wecker früh auf. Früher als sonst und das gerade an einem Wochenende. Denn ich möchte den ersten Sonnenaufgang des Sommers sehen. Und während ich leicht verschlafen ins Bad und dann aus dem Haus wanke, sehe ich schon die ersten Dächer im Sonnenlicht glitzern. Meine Sanduhr steht immer noch immer neben meiner Zahnbürste, wenn auch ein wenig verstaubt. Es weht ein kühler Morgenwind und für einen Moment fliege ich auf ihm schneller und schneller einer Zukunft entgegen. Ich denke an all die Morgen, die diesem hier noch folgen werden. Und ehrlich gesagt, ich freue mich darauf.
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