Von Geschirr, Gewürzen und Geschichten
Die Haarsträhnen fallen nacheinander auf den Boden, bedecken ihn, fast lückenlos. Im Hintergrund das Geräusch eines Rasierers. Neues ausprobieren.
Veränderung ist ihm wichtig, zu viel ist im Leben eintönig und monoton, alles im gleichen Ablauf. Er bezeichnet sich selbst gerne als Gewohnheitstier, hat seinen eigenen Rhythmus, dennoch einen Rhythmus mit Variationen. Am liebsten unerwartete Ereignisse im Rahmen des gewohnten Tagesablaufs. Eine Begegnung auf der Straße, ein höflicher Zeitungsverkäufer oder die ersten Mandarinen am Winteranfang.
Er betrachtet sich im Spiegel und schmunzelt über seinen Anblick, die Kopfhaut übersäht von Haarbüscheln und Unregelmäßigkeiten, die er übersehen hat. Mit einem letzten Griff zum Rasierer ist der Feinschliff getan und er fährt sich zufrieden über die übrigen Haare.
Die Kamera liegt auf der Anrichte im Vorzimmer, daneben der Wohnungsschlüssel und ein Glas, halb voll mit abgestandenem Wasser vom Vortag. Kreativität und freier Geist.
Das Glas mit zwei Fingern zwischen Geschirr aus dem Wohnzimmer und der Zeitung dieses Morgens balancierend geht er in die Küche. Das Wasser fließt über das Geschirr in der Abwasch, mit leisem Gluckern versiegt der Ausguss wieder. Das vorgekochte Thai Curry kommt in einer Transportbox gemeinsam mit Kamera und Zeitung in den Rucksack.
Er hat freitags frei, also beschließt er, einen kurzen Spaziergang zum Zentralfriedhof zu unternehmen. Die Linie 71 fährt fast direkt vor seiner Haustür, ein paar Stationen später steigt er wieder aus. Die Gräber erzählen Geschichten, manche gut gepflegt, manche seit Jahren verlassen, Grabsteine aus Marmor, kalt und grau an den Wegrändern. Er fotografiert gerne. Er fotografiert Geschichten. Die Menschen sehen sich seine Fotos an und dichten sich ihre eigenen Geschichten, für sich und individuell. Ihm gefällt die Freiheit an seinem Hobby.
Geruch von Honig, frischem Obst und Gewürzen. Er nimmt dem Verkäufer das Säckchen mit der zusammengestellten Kräutermischung aus der Hand, die dieser ihm entgegenstreckt und erklärt, er sei seit einigen Jahren Vegetarier, als er „Geflügel“ auf der Verpackung liest. Der Verkäufer lächelt und noch bevor ihm eine weitere Gewürzmischung angeboten wird, lässt er sich vom Strom der Menschen zum nächsten Marktstand treiben. Menschen.
Er sieht sie drei Meter entfernt beim Obststand stehen, sie lächelt ihm zu und hält eine Melone in die Höhe, als würde sie wie ein junges Mädchen nach Erlaubnis fragen, Schokolade aus dem Süßigkeitenregal nehmen zu dürfen. Er nickt ihr zu, ist mittlerweile bei ihr angekommen und nimmt ihre Hand. Sie fährt mit ihrem Daumen zur Begrüßung über seinen Handrücken. Sanft, fast vorsichtig.
Er ist 30, Kellner und das Geld reicht gegen Ende des Monats nur selten für Extrawünsche. Er lebt weltoffen, beobachtet Menschen aufmerksam, ist kreativ. Eines unterscheidet ihn von anderen Menschen. Er ist glücklich, er ist vollkommen, denn er hat genug.
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