Wald in der Donau
Als Kind war Wald einmal kurz davor nackt in die Donau zu springen - es wäre eine Mutprobe gewesen - aber während seine Kollegen dem zitternden Buben zusahen, wie er über das Geländer der hohen Brücke kletterte, platschten erste Tränen in das Gewässer und der einzige Fluss, der Wald in jener Nacht umgab, war der nicht enden wollende seines Geheules, als er sein Gesicht zwischen den Speckfalten seiner tröstenden Mutter verbarg, nachdem er in seiner Unterhose nach Hause gelaufen war.
Ähnlich spielte sich Walds restliches Leben ab. Es verlief nicht wie das von Säger, seinem Schulkollegen, der die Klasse täglich mit wilden Aktionen beeindruckte, das man mit einem holprigen Schotterweg voll ungewisser Kurven vergleichen könnte. Walds Leben war eine Gasse. Schon immer. Nie tat er etwas Unüberlegtes, sich selbst überraschte er nie. So wollte er es.
Gestern wurde er 50 Jahre alt. Bis dahin hatte er ein einziges Mädchen geküsst, Marie, die mittlerweile seine Ehefrau ist. Es war ein konstruierter Kuss, ein geplanter, überlegter, denn im Leben Walds war nichts unüberlegt. Nachdem er mit gutem Erfolg maturiert hatte, danach die Wehrpflicht absolvierte, studierte Wald. Selbstverständlich besitzt er mittlerweile eine sichere und lukrative Stelle bei der Versicherung Securitas und auch etwas, das die Leute als Ansehen und Erfolg bezeichnen.
Zur Securitas ist Wald gerade am Weg. Es regnet. Wenige Meter von ihm entfernt will ein junger Mann die Gassenseite wechseln. Bremsen kann der Radfahrer nicht mehr, der mit seinem weißen Rennrad so schnell gegen ihn donnert, dass dieser nie erfährt, woran er stirbt. Der Radfahrer selbst wird leicht verletzt, doch der Kopf des jungen Mannes knallt so fest auf das Pflaster, dass er förmlich platzt. Sein Blut bildet eine dicke glänzende Lacke, vermischt sich mit einer Pfütze, und und rinnt elegant in ein Kanalgitter. Wie gebannt starrt Wald auf die frische Szene. Der schwarze Mantel des Toten, die rote Blutlache in dessen Mitte das weiße Fahrrad liegt, als hätte es noch nie ein Mensch berührt. Es war das Schönste, das er jemals gesehen hatte, so ruhig, wild, absurd und vor allem: spontan.
Den Tag verbrachte Wald auf seinem Schreibtisch, ohne zu arbeiten. Woran er dachte, wusste er selbst nicht und doch musste er hin und wieder grinsen.
Wenn irgendwer auf die eigenartige Idee gekommen wäre, in der darauffolgenden Nacht an der Alten Donau zu spazieren, dann hätte er dort gegen drei Uhr früh ein bizarres Bild vor Augen. Einen nackten Mann, ungefähr fünfzig, der mit dem Kopf voran in die Donau springt.
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