Warum sie?
Ich koste jede Stufe aus. Mache ohne jede Hast einen Schritt nach dem anderen. Dabei brauche ich mir doch gar keine Sorgen zu machen. Die Polizisten irren sich, so einfach ist das. Gleich werde ich die Tür aufmachen und ihnen dich zeigen. Als ich vor der Zimmertüre stehe, fällt mir auf, dass das Licht immer noch brennt. Aber das ist nichts Ungewöhnliches. Du schläfst oft unerwartet ein.
„Lassen Sie sich ruhig Zeit“, sagt der Polizist freundlich. Entschlossen greife ich auf die Klinke und drücke sie hinunter. Die Sonne scheint auf den Schreibtisch, den du dich immer weigerst aufzuräumen. Dann fällt mein Blick auf das Bett. Du bist nicht da. Der Polizist tritt hinter mir in das Zimmer. Er macht sich Notizen in seinem kleinen Schreibblock.
„Vielleicht ist sie woanders“, sage ich tonlos. „Vielleicht ist sie nur mal eben raus gegangen.“ Dann fange ich an zu weinen. Es schüttelt mich am ganzen Körper. Heulend lasse ich mich auf den Boden fallen. Ich merke, dass Paul in das Zimmer kommt. Er sagt nichts. „Frau Hansen, ich werde jetzt die Krisenberaterin heraufholen. Es wird alles gut.“
Die Krisenberaterin ist gegangen. Die beiden Polizisten sind gegangen. Nur Paul und ich sind noch da. Ich knie auf dem Boden, unfähig, mich wegzubewegen. Ich sehe mir das unberührte Bett an. Den alten Teppich, den ich schon gekauft hatte, bevor du überhaupt geboren worden warst. Den Kleiderschrank, in den du immer einfach nur die Sachen hineingeworfen hast. Aber das ist unwichtig. Nichts wird je wieder wichtig sein.
In einem plötzlichen Wutanfall schlage ich mich selber, um den Schmerz zu bewältigen, aber er ist unbewältigbar. Paul ist bereits gegangen. Ich kann ihn unten werkeln hören. Der Duft von frischem Kaffee zieht durch den Flur bis in dein Zimmer.
Wie von einer plötzlichen Eingebung getroffen wird mir klar, was ich zu tun habe. Ich schleiche ins Badezimmer, verschließe die Türe und lasse mich vor dem Vorratsschrank auf die Knie fallen. Ich krame eine Whiskeyflasche hinter den Reinigungsmitteln hervor und schlage sie mit voller Wucht gegen das Waschbecken. In der Stille ertönt das zerspringende Glas wie ein Bombenschlag. Ich zucke zusammen und weiche zurück, als die Flüssigkeit mich von oben bis unten benässt. Schnelle Schritte ertönen, und jemand hämmert mit voller Wut gegen die Türe. Ich höre und höre doch nicht eine Stimme, die nach mir ruft. Wie in Trance knie ich mich zwischen die Scherben, nehme die nächstbeste in die Hand und schneide mir damit in den Arm. Die Haut gibt langsam nach. Ein rosa Strich bildet sich dort, wo die Klinge gerade eben noch entlanggefahren ist. Dann kommen die ersten Blutstropfen heraus, bis sich schließlich kleine Bäche bilden. Ich schließe die Augen und falle auf den Boden, ich falle und falle, bis ich dich endlich wieder sehe …
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