Warum sie hier ist

Ich bin hier, um eine neue Seite von mir zu entdecken. Entschuldigen Sie, das war gelogen. Um ehrlich zu sein weiß ich nicht, warum ich hergekommen bin. Ich möchte Ihnen nicht von meinen Problemen erzählen, immerhin kenne ich Sie erst ein paar Minuten. Naja, ich würde eher mit Ihnen reden als mit einem Freund von mir. Vielleicht weiß ich einfach, dass meine Probleme so menschlich und unwichtig sind, dass ich Ihnen nichts davon erzählen möchte. Immerhin könnten Sie mir sagen, was ich ohnehin längst weiß. Es gibt unzählige Menschen, die viel größere Probleme haben als ich je haben werde. Ein Teil von mir hat Angst, dass Sie nach Hause gehen und mit Abneigung an Ihre "Patientin" denken, die wegen ihren mickrigen Unzufriedenheiten zu einem Psychiater geht. Sagen Sie bitte nicht, dass Sie so etwas nie denken würden, ich wäre zu unschlüssig, ob ich Sie ernstnehmen kann. Immerhin sitzen Sie hier nicht als eine Person mit einer Meinung, sondern als jemand, dessen Beruf es ist Leuten wie mir beim Jammern zuzuhören, und dafür bezahle ich Sie ja auch. Sie dürfen mir gar nicht sagen, wie dämlich ich bin. So gesehen bin ich vielleicht gar nicht so unpraktisch. Immerhin müssen Sie bei mir nichts reparieren, ich brauche keine Hilfe und will keine gut gemeinten Ratschläge. Es besteht auch keine Gefahr, dass ich plötzlich auf Sie losgehe. Ich frage mich das öftern, haben Sie solche Patienten? Leute, die wirklich Hilfe brauchen. Ich wünschte, es wäre erlaubt, über Patienten zu sprechen, ich möchte mehr über sie wissen. Warum? Finden Sie nicht, dass es sehr befriedigend ist, von Verrückten zu erfahren, man wirkt dann so menschlich, so normal. Man bekommt eine Bestätigung wie gut es einem eigentlich geht. Wissen Sie was? Ich nehme das lieber zurück. Bei dem Gedanken, dass Sie von der bemitleidenswerten Person, die keinen Grund hat da zu sein, reden, wird mir beinahe übel. In letzter Zeit überrasche ich mich öfters selbst. Ich habe mir vorgenommen, ehrlich zu sein, wenn ich mit Ihnen rede, und ich habe wirklich überraschend wenig gelogen. Selbstverständlich konnte ich nicht immer bei der Wahrheit bleiben. Ich bin zu gewohnt an meine kleinen Lügen, kein Mensch ändert sich so einfach. Ich habe einfach meine Grenzen, die ich nicht überschreiten möchte. Fänden Sie es nicht interessant zu wissen, was hinter unseren Grenzen liegt? Vielleicht sind dort unbekannte Teile meiner Persönlichkeit, die ich noch nicht kenne? Von denen gibt es sicher genug, ich denke fast nie daran, wer ich eigentlich bin. Ich glaube, ich möchte es auch nicht wissen, aber all das ist sowieso nebensächlich für Sie. Solange Sie mir zuhören oder zumindest so tun als ob, erfüllen Sie Ihre Aufgabe als mein Psychiater. Ich muss mich nicht kennen, dafür sind Sie ja da.

Darf ich Sie einmal etwas fragen?

…

Warum antworten Sie nie?

Ich höre ein leises Knarzen, die Tür geht einen Spalt auf und ich werde angeschaut. Ich frage mich, wie ich in den Augen dieser Person aussehe. Wie eine Patientin beim Psychiater?

„Mit wem redest du?“