Warum weinst du denn, mein Kind?
Warum weinst du denn, mein Kind?
Hast du es nicht gehört?
Von der, die über unsre Landesherrscher schrieb,
deren Taschen so viel größer waren,
als unsere jemals sein werden
und die verschwand, dort am Berg,
dort beim Wasserfall, dort wo einst
die schönen Blumen wuchsen, die
nun längst verdorrt, vergessen sind.
Hast du es denn nicht gehört?
Von denen, die auf die Straße zogen,
um ihre Stimme emporzutragen,
zu denen, die ganz oben standen,
zu denen, die das Land beherrschten,
zu denen, die nicht erhören wollten,
und deren Stimme ausradierte,
die Luft voll Tränengas.
Warum weinst du denn, mein Kind?
Hast du es denn nicht gehört?
Von denen, die logen und betrogen,
damals bei der Wahl,
die Stimmen multiplizierten, wo ihre zu wenig,
die Stimmen minimierten, wo der Gegner zu viel,
nur um weiter rudern zu können,
nur ins Verderben hinein,
nur ein ganzes Volk mit ihnen.
Hast du es denn nicht gehört?
Von denen, die verhaftet wurden
und die nie mehr wiederkehrten,
aus den dunkelgrauen Gefängniszellen
weil sie eine Meinung hatten, die
von Freiheit, Frieden, Glück erzählte,
weil sie nicht die Sprache derer sprachen,
die mit Angst und Neid vergiften wollten.
Warum weinst du denn, mein Kind?
Hast du es nicht gehört?
Von denen, die sich entgegengestellten,
den Waffenträgern, den Regierungswillendurchsetzern,
von denen, die fürs Volke standen,
nicht für die Macht, nicht für die Gier,
und die dennoch fielen, einer nach dem andren,
ihr dunkles Blut ein letztes Mahnmal
auf von Umbarmherzigen beherrschtem Boden.
Hast du es nicht gehört?
Von denen, die sie fuhren,
die schweren Panzerwagen, hinein ins eigne Land
und auf die Häuser zielten, in denen Widerstand sich regte,
bis aus Orten, die einst Heimat waren,
nichts mehr übrig blieb
außer Schutt und Asche
und selbst die Schatten an der Wand
von nichts getrieben wurden,
als der Angst.
Warum weinst du denn, mein Kind?
Hast du es nicht gehört?
Von den Jungen, die noch Kinder waren
und die nicht wollten, dass ihr Schicksal
blutbefleckt und voll mit Schuld
auf schwarz verbrannte Erde trieft
und deren Blut nun unsere Felder tränkt
und deren Augen nun gen Himmel blicken
und die Sonne trotzdem nicht erkennen.
Hast du es nicht gehört?
Das Leid und Klagen derer, die zurückgeblieben sind,
während die, die sie zu lieben meinten,
hinfort gegangen sind, in eine andre Welt,
der unsrigen so fern, der unsrigen so unbekannt
und die nun an leeren Gräbern stehen,
weil die Leichen anderswo verscharrt.
Warum weinst du denn, mein Kind?
Hast du es nicht gehört?
Das Lachen über mich,
es tönt aus allen Ecken,
weil ich zu weinen wage,
in dieser kalten Welt.
Harte Zeiten, harte Menschen,
so sagen sie zu mir,
habe Mut, habe Stärke,
wir brauchen nicht zu weinen Meinende.
Aber sie haben Unrecht, irren sich bloß selbst.
Ich habe Mut, ja mehr als das,
ich habe nicht aufgehört zu weinen,
als ihr euer Herz gegeben
für die neue, triste Zeit.
Deshalb frage nicht,
weshalb ich weine.
Frage doch,
weshalb du nicht weinst.
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