Was heißt, du willst kein Tier essen?
Margot sperrte die Tür zu und zog ihre Stiefel aus. „Anais, wasch dir die Hände!“, sagte sie zu ihrer Tochter und ging ins Wohnzimmer. Ihre Tasche und Jacke warf sie geschwind auf das Sofa und begab sich in die Küche. Der Raum war fein, aber klein. Das einzige, das störte, war das dreckige Geschirr in der Spüle, um das sie sich später kümmern wollte.
Zu Abend gab es den Gulasch-Eintopf von vorgestern, der nur darauf wartete, fertig gegessen zu werden. Während Margot das Gericht erwärmte, deckte Anais den Tisch. Zwei Teller, zwei Löffel, zwei Gläser. Mehr brauchten sie nicht. Jeder setzte sich an seinen Platz und Margot begann zu essen.
Sie hatte wie jeden Tag im Büro keine Gelegenheit gehabt, eine Pause einzulegen. Seit Wochen kam sie fix und fertig nach Hause. Das einzige, das sie im Moment wollte, war in Ruhe ihre Mahlzeit zu essen und sich danach schlafen zu legen.
„Ich will kein Tier essen“, unterbrach Anais die im Zimmer herrschende Stille. Margot ließ ihren Löffel fallen und sah ihre Tochter nur an. „Was heißt, du willst kein Tier essen?“, sagte sie. „Ich will einfach nicht“, kam es von der 6-Jährigen. Margot sah sie mit weit aufgerissenen Augenlidern an und fragte: „Gefallen dir meine Gerichte nicht mehr?“ „Doch“, sprach Anais sehr leise. „Dann iss! Ich kann dir nichts anderes zum Essen machen!“, sagte Margot, „Das hätte ich von dir nicht erwartet, Anais.“ „Es tut mir leid. Ich will nicht mehr ein Mörder sein“, sagte Anais, und die Mutter verstand, was hinter dem Gesagten steckte. Sie umarmte ihre Tochter und entschuldigte sich.
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