Was ist Mut eigentlich?
Kritisch beäugte sich Mirabelle im Spiegel. Sie inspizierte ihre Oberschenkel, die, so schien es ihr, im letzten Jahr breiter geworden waren, sie berührte unglücklich ihre Nase, die nicht so gerade war, wie sie sein könnte, ihre Ohren, die, so fand sie, zu sehr abstanden. Sie betrachtete ihre Taille, ihre Brust und ihr Haar. Wieso konnte sie nicht wie andere Mädchen sein, dachte sie.
-Wir Menschen sind Individuen mit exzeptionellen Erscheinungen, Gefühlen, Erinnerungen und Gedankengängen. Unsere Unterschiede machen uns aus, sie bilden unsere Persönlichkeit sowie unser Aussehen und machen uns zu den einzigartigen Wesen, die wir sind. Und dennoch haben wir das Bedürfnis, uns an andere anzupassen, Trends zu folgen und erhoffen uns dadurch dazuzugehören. -
Wenn sie so hübsch wäre wie Lorena, das schönste Mädchen ihrer Klasse, dann würden ihr die Leute mehr Aufmerksamkeit schenken, sie würden sie mehr schätzen und lieben, dachte Mirabelle. Also beschloss sie, sich anzupassen, so zu werden, wie die anderen. Sie nahm all ihren Mut zusammen und zog das extra kurze Kleid an, das ungetragen und einsam in der Ecke ihres Kleiderschrankes lag. Sie trug Make-up auf, so viel wie möglich, um ihre Sommersprossen zu verdecken, die sie in ihren Augen nicht einzigartig, sondern hässlich und anders machten. Und anders wollte sie auf keinen Fall sein. Als sie am nächsten Tag in die Klasse schritt, fühlte sie sich mutiger als je zuvor. Stolz schwebte sie zu ihrem Platz und setzte sich.
-Mut ist die Furchtlosigkeit angesichts einer Situation, die einem Angst macht. -
Normalerweise gefiel es Mirabelle überhaupt nicht sich so herzurichten, es passte nicht zu ihr. Aber nun hätte sie vor Glück fliegen können, als sie die Blicke der anderen auf sich ruhen sah. Doch schon bald fühlte sie sich unwohl in dem kurzen Rock und fragte sich dauernd, ob ihr Make-up auch wirklich gut aussah und ob ihr Haar gut ihre Ohren verdeckte. Schnell verwarf sie die negativen Gedanken. Jetzt sah sie so aus wie die Models auf Instagram, dachte sie. Endlich gehörte sie dazu.
Als sie an der Toilette vorbeiging vernahm sie ein leises Schluchzen in der Ecke. Es war ihre Klassenkameradin Lorena, die sich selber im Spiegel ansah und sich wütend sagte: „Ich bin so hässlich! Das ist alles so unfair!“
Eilig ging Mirabelle weiter. Da hörte sie jemanden hinter sich lachen. Ein paar Jungs zeigten flüsternd auf ihr kurzes Kleid und bespöttelten sie. Jetzt war auch Mirabelle nach Weinen. All ihr Mut war wie weggeblasen. Und nun sah sie, dass auch die Blicke ihrer Klassenkollegen nicht bewundernd waren, sondern ablehnend oder gar maliziös.
Zu Hause ließ Mirabelle ihren Tränen freien Lauf. Und als diese ihr Make-up wegspülten erkannte sie, dass Mut nicht bedeutete, sich zu verändern, um die Anerkennung Anderer zu gewinnen. Sondern so sein, wie man ist und seine eigene Anerkennung zu haben.
-Habe den Mut du selbst zu sein. Auch wenn die Welt sagt: „Du bist zu anders.“-
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