Weilen vor dem Fenstervon Deeksha Joshi
Ich ziehe die Jalousien hoch und blicke aus dem Fenster. Du sitzt nicht auf deinem Standarttisch, neben dem Fenster an der Straßenseite, weswegen ich mich ducken muss, um deine ganze Figur zu sehen. Du trägst einen jeansblauen Minirock, der nur das Nötigste bedeckt und das tägliche Fantasieren erspart. Du hast einen strichlierten kakaobraunen Rollkragenpullover an, auf dem die berühmte schwarze Maus mit der roten Hose abgebildet ist, der dir zu klein ist und man deswegen beim Ausstrecken einen zärtlichen Spalt deiner zierlichen Figur bewundern kann. Die Zärtlichkeit deiner Figur und die Blässe deines Teints erzeugen die perfekte Kombination aus Hilflosigkeit und Unselbstständigkeit, die mir, mehrere Meter Wegstehenden, die Sinne beraubt. Deine in-Wein-eingetauchten Wangen, die heute sogar mehr Farbe brennen als normalerweise, stammen aus derselben Farbpallette wie deine Haare. Deine verlockenden Locken, die mich jeden Tag zum Fenster locken, sind heute hoch zusammengebunden, weswegen man deine kleine Stubsnase und die sich auf ihr befindenden Sommersprossen bewundern kann. Du bist schon wieder in die gelben Gummistiefeln deiner älteren Schwester geschlüpft, die bei jedem deiner kleinen Schritte einen quietschenden Laut von sich geben und mir das Signal setzen, dass du schon mit der Holzgitarre vor der Musikschule stehst und ich mit meinem Kaffee zum Fensterbrett eilen und die tägliche halbstündige Bewunderung genießen kann.
Was bringen dir die 125 Euro im Monat und 28 Minuten Busfahrt von Donaustadt zu deiner Musikschule, wenn ich dir kostenlose Einführungsstunden anbieten und mit meinem Instrument für musikalische Unterhaltung sorgen kann? Ich will in deine Welt eindringen und dir die wahre Musik zeigen. Wir können mit dem Mund musizieren, mit den Händen tanzen und mit dem Leib Symphonien komponieren. Denn meine Faszination für dich übermengt deine Faszination zur Musik in für dich unvorstellbare Weisen.
Wenn ich an unsere Zeit im Park zurückdenke, wie ich bei dem Sandkasten deine Haare aus dem Gesicht streicheln und dabei deinen abgepuderten Hals duften konnte, werde ich von Emotionen bestürmt, die mir das Aufrechtstehen am Fensterbrett erschweren und manchmal mit Kaffeepatzern auf der Cargohose enden. Aber der Gedanke, dass diese Kaffeeflecken von Knutschflecken ersetzt werden könnten, treibt mich weiter.
Das Weilen vor dem Fenster hat mich ganz heiß und den Kaffee ganz kalt gemacht. Bevor ich mich jedoch in die Fantasiebilder weitervertiefen kann, nimmt deine Mama den Gitarrenkoffer aus deiner Hand. Während sie die Autoschlüssel bereithält, flüstere ich ein leises „Können wir noch…?“ und dann weiß ich, dass ich den Kaffee austrinken, meine Hose hochziehen und die Jalousien herablassen muss.
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