Weinrot
Die Panik überwältigt dich. Jedes Mal, wenn du nach Hause kommst, ist es düster. So seelenlos. Niemand hat für dich gekocht. Die Küche bleibt dir wieder zum Putzen überlassen. Du bekommst keine Liebe. Auch keinen Halt. Niemand versteht dich. Niemand weiß, was dich bekümmert.
Wenn du vor ihr stehst und ihr in die Augen blickst, überkommt dich Ekel. Es nimmt kein Ende, sagst du, als dir der Geruch vom Alkohol in die Nase steigt. Jedes Mal die gleichen Worte. Jedes Mal die gleichen Ausreden. Jedes Mal die gleiche Enttäuschung.
Als du dich weiter ins Wohnzimmer bewegst, merkst du die roten Flecken am Boden. Stufe für Stufe steigst du in den zweiten Stock. Ihr Schlafzimmer. Dir rutscht dein Herz in die Hose. Wenn sie wieder ohne Scham im Zimmer liegt, sich bis zur Besinnungslosigkeit betrinkt. Aber immer mit Cola gemischt, weil der Geschmack doch so unerträglich ist, wie ihr Leid.
Am liebsten willst du die halbleere Weinflasche nehmen, sie über ihren Kopf ausleeren und ein Feuer zu Boden fallen lassen. Du fängst dich. Deine Vernunft hat, wie immer, deine Wut besiegt. Du sammelst deine letzte Geduld zusammen und versucht, ein letztes Mal, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Du sprichst deine letzten Worte: Ich bin dir nicht wertvoll genug, dass du endlich mich über den Alk stellst!
Die nächsten Tage ignorierst du die dreckige Küche und die endlosen Tropfen auf dem Boden. Du gehst an ihrem Zimmer vorbei. Für einen kurzen Moment bleibst du stehen. Du atmest nicht. Du bleibst still. Du sammelst dich wieder und gehst in dein Zimmer. Du wendest ihr den Rücken zu, als die Rettung sie, auf ein Neues, in die Psychiatrie schleppt.
Doch diesmal liegst du falsch. Es ist nicht die Psychiatrie.
Es nimmt kein Ende, bis sie mit dem Alkohol ihr Leben beenden wird. In der Anamnese will sie sich regelrecht zu Tode saufen. Und nicht einmal jetzt hat es ein Ende genommen. Als sie nie wieder von der Notaufnahme heimkam.
Wann war sie das letzte Mal arbeiten? Wann hat sie das letzte Mal Sport gemacht? Wann war sie das letzte Mal draußen? Wann hat sie dir das letzte Mal Liebe geschenkt? Wann hast du ihr das letzte Mal Hab dich lieb gesagt?
Ins Bett gekauert spürst du deine Tränen dein Gesicht benetzen. Mit Schuldgefühlen schläfst du ein. Mit ihnen wachst du auf. Mit ihnen gehst du von zuhause weg. Und mit ihnen kommst du heim. Du verfasst eine Nachricht, die sie niemals zu Gesicht bekommen wird:
Ich vermisse dich, Mama.
Wieder überwältigt dich die Panik. Immer noch ist es düster, wenn du nach Hause kommst. Diesmal seelenloser als davor. Schon wieder hat niemand gekocht. Die Küche ist, wie jedes Mal, dir zum Putzen überlassen worden. Du stehst wieder ohne Liebe da. Ohne Halt. Nicht einmal deine Therapeutin versteht dich. Und noch immer hat niemand Ahnung, was dich bekümmert. Wenn du vor dem Spiegel stehst und dir in deine Augen blickst, überkommt dich wieder ein Ekel. Es nimmt kein Ende, sagst du, als dir der Geruch vom Alkohol in die Nase steigt. Aber diesmal ist es deine Flasche.
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