Weißt du noch, Schwester?
Weißt du noch, an dem einen Tag, als wir zusammen am anderen Ende der Stadt waren und es dir plötzlich nicht mehr gut ging? Da hast du deinen Freund angerufen, damit er uns abholt. Er ist so schnell gefahren, dass mir der Rücksitz von hinten die Luft aus den Lungen gedrückt hat. Du hast gesagt, er solle langsamer fahren, aber er hat nicht auf dich gehört. Er fand es lustig. Ich nicht.
Ich weiß noch, dass ich daran dachte, dass gleich, jeden Moment, ganz plötzlich, alles vorbei sein könnte. Dass er bei dieser Geschwindigkeit niemals rechtzeitig reagieren könnte. Dass wir sterben könnten, hier und jetzt, zusammen, zerquetscht, zwischen zerbeultem Metall und zersplittertem Plastik und Stoffsitzen, die nach Duftbaum riechen.
Ich hab mir meine Angst nicht anmerken lassen. Hab mitgelacht und einen Song auf deinem Handy abgespielt, das über Bluetooth mit den Autoboxen verbunden war. Hab überlegt, ob das ein guter letzter Song wäre. Ob er immer noch spielen würde, wenn Rettungskräfte sich bemühten, unsere Überreste von denen des Autos zu trennen.
Ich denke nicht gern an diesen Nachmittag zurück. Aber nicht, weil ich Todesangst hatte.
Du fehlst mir zu sehr.
Ich frage mich, ob mein Leben wirklich vor meinen Augen vorbeigezogen wäre, in diesen letzten Sekunden, kurz davor. Und wie hätte das wohl ausgesehen? Kleine Filmszenen? Erinnerungsschnipsel? Pure Emotionen? Auf jeden Fall hätte ich dich gesehen.
Wir als Kinder, wie wir kreischend über eine Wiese laufen – gesprächiges Schlendern bei Straßenmusik – dein lachendes Gesicht, Gott und die Welt auf den Lippen – eine Bank, von der Sonne beschienen – feuchte, rote Wangen – wir reden stundenlang – wir essen kalte Pizza, trinken aus Kokosnüssen – ein Spaziergang im Schnee, du bist älter, schaust ernst – glitzerndes Wasser und der Geschmack von Chlor und Pommes im Mund – wir teilen uns eine Umkleidekabine, probieren Kleider an, die wir uns nicht leisten können – eine minutenlange Sprachnachricht von dir, die ich am Heimweg anhöre – du bringst mich zum Lächeln – bei dir zuhau–
Zu lang. So viel Zeit hätte ich nicht, da wäre ich schon längst tot.
Ich sollte dankbar sein. Aber alle Erinnerungen an dich schmecken bitter, besonders die schreiend glücklichen, die von Herzen lachenden. Die Stille tut so weh, dass die besonders lauten zu den wertvollsten werden.
So lange kein Wort; nicht geschrieben, nicht gesprochen.
Ich spüre deine Abwesenheit an dieser Stelle unter dem Brustbein, zwischen den Rippen. Ich hab mal überlegt, mir da ein Tattoo stechen zu lassen. Würde mit Sicherheit weniger weh tun.
Ich spüre, wie ich dich verliere. Und dass ich nichts dagegen machen kann.
So lange waren wir gemeinsam unterwegs.
Dann hast du die Autotür aufgerissen und bist gesprungen, ohne Vorwarnung. Ich hab die Kontrolle über den Wagen verloren. Ich schlittere über die Fahrbahn. Und mir bleibt nicht genug Zeit, alles noch einmal zu durchleben. Ich kann nur daran denken, dass ich nicht mitbekommen habe, wie du den Sicherheitsgurt gelöst hast.
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