weiterschwimmen
Linker Arm und rechter Arm nach vorne.
Ausstrecken.
Mit den Beinen vor Nervosität zappeln.
Jetzt treffen sich die beiden Hände vorne und gehen sofort wieder in einem runden Bogen auseinander.
Und wieder von vorne.
Das Salzwasser brennt in seinen Augen, die er vor Erschöpfung kaum noch offenhalten kann.
Trotzdem muss er weiter.
Eins. Tempo. Zwei. Tempo. Drei. Tempo. Vier. Tempo. Fünf. Tempo.
Denn dort unten und ringsum lauert die unendliche Tiefe, der Abgrund, das Ende.
Verzweifelt atmet er aus und ein, aus und ein; aber es fühlt sich an, als könnte gar nicht genug Sauerstoff in seine Lungen fließen, um ihn am Leben zu halten.
Wo sind die anderen?
Wenn er nur ein Stückchen weiter schwimmt, ist er in Sicherheit. Noch ein Tempo. Und noch eins.
Verdammt, wenn ich hier nur irgendwie lebend herauskomme…
Vielleicht werden ihn die Wellen noch verschlucken, bevor er die Zufluchtsstätte erreicht. Den sicheren Hafen, die Küste.
Doch je näher er dem seichten Wasser kommt, desto stärker wird der Wellengang.
Und während sich die Wassermassen überschlagen und an der Küste zerschellen, verweilt nur ein einziger Wunsch unermüdlich: Noch ein Tempo. Noch ein Schwimmzug. Rettung.
Und was werden erst die Zeitungen sagen…
Grafische Beschreibungen, Fotos, Berichte; „Wasserleiche im Atlantik geborgen“
Doch die Küste liegt noch weit entfernt. Durch die verschwommene Sicht seiner schmerzenden Augen erkennt er vor sich den hellbraunen Strand, der sich einladend in seine Richtung streckt.
Noch ein Tempo. Und noch eins. Weiterschwimmen.
So geht das schon viel zu lange. Er hält kaum noch durch.
Mein Gott, rette mich doch irgendjemand! In der Verzweiflung werde selbst ich noch gläubig…
Dann; riesige Wassermassen türmen sich unbemerkt hinter ihm auf. Es wird für einen Moment finster und kalt, dann scheint alles zu brennen: seine gereizten Augen, die Wunden an seinem zitternden Oberkörper, die vor vielen Stunden entstanden, als sein Segelschiff brutal gegen einen Felsen rammte und zerschellte.
Prustend und zitternd schnellt er wieder aus dem Meer hervor und hustet das erstickende Salzwasser aus seinen brennenden Lungen. Nur noch so wenige Meter.
Lieber Gott, lass mich leben…!
Das Ziel ist zum Greifen nah, die Sorge um die Matrosen für einen kurzen Moment der Ekstase vergessen.
Sand.
Kühler, feuchter Sand!
Mit einem plötzlichen kurzen Energieschwung springt er auf und rennt ein paar Schritte durch den Sand; genießt das Gefühl des festen Bodens unter seinen Füßen und streckt die Arme in die Luft, wobei ein erschöpfter Freudenschrei seine trockenen, rissigen Lippen verlässt.
Dann, genau so spontan wie sie gekommen war, verlässt die Ektase seinen Körper und er sinkt prompt zu Boden.
Schweratmend aber mit einem zuversichtlichen Lächeln bleibt er dort im Sand liegen und blickt hinaus auf den Ozean. Die übrige Schiffsbesatzung wird es auch lebend aus dem Meer schaffen. Und sie werden alle gefunden und gerettet werden.
Sie müssen nur ein wenig weiterschwimmen.
Tempo für Tempo.
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