Welch großen Unterschied ein einziger Augenblick machen kann
Es war schon spät am Abend, als ich gedankenverloren in den Zug nach Hause einstieg. Endlich würde ich meine Familie und meinen Hund Cocco wiedersehen. Bei diesem Gedanken musste ich lächeln. Es war sehr still und bis auf das Rattern des Zuges war kein Geräusch zu hören. Doch davon bekam ich nur wenig mit, denn in meinen Ohren dröhnte laute Pop-Musik. Sobald mich gesetzt hatte, zog mein Handy aus der Tasche. Schnell schrieb ich meiner Mama, dass ich in 3 Stunden am Westbahnhof in Wien eintreffen würde. Ich wollte gerade Netflix öffnen, um mir die neue Folge meiner Lieblingsserie anzusehen, als sich ein Junge mit dunkelbraunen welligen Haaren direkt neben mich setzte. Er musste etwa in meinem Alter sein. Das erkannte ich an der Art, wie er gekleidet war und sich bewegte. Plötzlich wurde mir heiß, denn im Zug gab es viele freie Sitzplätze, doch er saß direkt neben mir und lächelte mich an. „Hi, ich bin Toby“, sagte er und blickte mir direkt in die Augen. Im ersten Moment wusste ich nicht recht, was ich sagen sollte, doch nach einem kurzen Augenblick entschied sich der rationale Teil meines Gehirns dafür normal zu antworten und meinen viel zu hohen Puls zu ignorieren. „Hi, ich heiße Julia. Warum hast du dich genau neben mich gesetzt?“, sprudelte es aus mir heraus. Erschrocken schlug ich mir die Hände vor den Mund. Letzteres wollte ich nicht laut aussprechen. Doch anstatt beleidigt oder verwirrt zu reagieren, überging er meine Frage einfach und fragte mich weiter nach meinem Alter und warum ich so spät am Abend mit diesem Zug fuhr. Ich erzählte ihm von dem Internat, das inzwischen mein zweites Zuhause geworden war und dass ich meine Eltern über das Wochenende zuhause besuchen würde. Es war einfach, mit ihm zu reden, obwohl ich ihn kaum kannte. Er konnte gut zuhören ließ allerdings auch nicht nur mich sprechen und warf hin und wieder einen passenden Kommentar ein. Als ich ihn fragte, warum er in diesem Zug war, erzählte er mir von seinen Großeltern, die er besucht hatte und dem See, an dem er gewohnt hatte. Die Zeit verging schnell und schon kurz darauf hielt der Zug in Baden, seinem Wohnort an. Er verabschiedete sich und sobald die Türen sich hinter ihm geschlossen hatten, viel es mir plötzlich ein. Wir hatten keine Nummern oder sonstiges ausgetauscht! Ich wusste nicht recht, wie ich mich fühlen sollte, denn Traurigkeit erschien mir ein nicht angemessen. Trotzdem stimmte mich der Gedanke ihn nie wieder zu sehen traurig und ein Gefühl der Enttäuschung machte sich in mir breit. Nun war es wieder still im Zug und ich war mit meinen Gedanken allein. Langsam zog ich meine Kopfhörer aus der Tasche und begann mit der neuen Folge meiner Lieblingsserie. Noch manchmal denke ich an diese Zugfahrt zurück und frage mich was passiert wäre, wenn wir Nummern ausgetauscht hätten. Ich denke an die vielen Möglichkeiten wie sich diese Freundschaft oder sogar Beziehung hätte entwickeln können und welch großen Unterschied ein einziger Augenblick machen kann.
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