Wenn der Himmel beginnt, sich auszuziehen
Der Traum hielt lange an. Das Jahr ging fast zu Ende und noch immer träumte sie. Von den faulenden Birnen in ihren Händen und dem Waldrand, der umrandet wurde von abgefallenen Blättern. Es war hell in dieser Welt, kein Schatten legte sich über Gesichter. Gesichter, die sonst nur aus zusammengekniffenen Augenbrauen bestehen. Draußen, außerhalb ihrer luziden Grenzen, da lacht nie jemand. Da flechten sie höchstens Zwiebelzöpfe und setzen sich mit ihnen zum Trocknen in die Sonne. Sobald sie getrocknet sind, ziehen sie mühselige Runden durch ihr Dorf. Es wird viel geredet, außerhalb der Stadtmauern. Zu viel. Deswegen musste sie gehen und träumen. Weg. Hinein in den Traum voller Herbststürme und unbefangenem Gehen. Sie wachte einfach nicht mehr auf. Neben ihr Gräser, Äste und Baumrinden. Ein nicht endender Waldspaziergang. Die Tage vergehen schnell, wenn man sie wegschläft. „Pass gut auf dich auf“, sagte der Traum manchmal zu ihr. Noch immer erinnerte sie sich an die unzähligen Momente, in denen sie weinte. Den Kopf angelehnt an die Schulter der Mutter. Die Mutter war alt geworden, dachte sie. Es gab einen Baum in ihrem Garten, der so alt war wie sie. Oft setzte sie sich in seine Nähe und genoss das Bild.
Hier konnte sie atmen, die Knospen schlossen sich synchron mit dem Senken ihrer Brust. Doch sie dachte trotzdem ans Aufwachen. Sie sehnte sich nach der Wohnküche ihrer Mutter. Nach den Äpfeln, den Birnen und dem Käse. Sie erzitterte. Sie wusste, wie man aus einem Traum erwachte, aber wie würde sie wieder aus der realen Welt erwachen können? Genau dann, wenn alles wieder schrecklicher und dunkler ist als jeder Albtraum. Sie überlegte lange. Viele wollen ja gar nicht aufwachen, wollen gar nicht weg. Weil sie nicht hinsehen. Sie verschließen einfach ihre Ohren, wenn in den Nachrichten von Kindern mit Meerwasserlungen berichtet wird. Doch wie lange noch? Wie lange können wir noch die Augen offen halten und dennoch verschließen, wenn Missstände geschehen?
Sie hörte die Kirchturmglocken läuten und zählte die Glockenschläge. Es war Zeit zu gehen, das wusste sie und das wusste der Traum. „Geh und vergiss mich nicht“, sagte der Traum zu ihr. Wenn sie die Augen aufmachte, würde sie wieder die vergoldeten Täler sehen. Hier hatte sie ihr Leben lang geatmet. Nachdem sie erwachte, stand sie auf, blickte aus dem Fenster und fing an, ihr altes Schulnotizbuch zu suchen.
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