Wenn die Zeit anders schlägt
Lina ist ein einfaches, 16-jähriges Mädchen. Sie geht aufs Gymnasium. Es ist Abend. Sie sitzt allein an ihrem Schreibtisch und macht Hausaufgaben. Draußen ist es dunkel, und ihr Zimmer liegt still. Jede Woche fühlt sich gleich an: Schule, Lernen, Hausaufgaben, Deadlines. Unter der Woche bleibt kaum Zeit zum Atmen. Alles läuft weiter, ein Tag nach dem anderen. Schnell. Immer weiter.
In der Schule geht es genauso weiter, Stunde um Stunde. Mathe, Deutsch, Englisch. In den Pausen denkt Lina schon an die nächste mündliche Wiederholung . Mit ihren Freundinnen läuft sie durch die Gänge. Sie lachen kurz, reden schnell, ohne wirklich zuzuhören. Es fühlt sich leer an. Nur wenige Worte, und dann wieder zurück in den nächsten Raum.
Der Samstag ist wie immer. Die ganze Familie trifft sich bei Oma und Opa – Eltern, Tanten, Onkel, Geschwister, Cousins. Alle essen zusammen, trinken Tee. Es ist eine alte, unausgesprochene Regel. In diesen Momenten scheint die Zeit kurz stehenzubleiben. Alles fühlt sich vertraut und sicher an.
Doch seit ihr Onkel krank ist, ist nichts mehr wie vorher. Dieser Samstag fühlt sich anders an. Schwerer. Bedeutender. Vielleicht, weil niemand weiß, wie oft er noch dabei sein kann. Er sitzt still in der Ecke. Seine Schultern hängen, seine Stimme ist kaum da. Seine Haut ist blass und gelblich. Sein Blick ist leer, aber irgendwie friedlich. Lina setzt sich zu ihm. Sie reden nicht viel. Es braucht keine Worte. Es reicht, dass sie da ist.
In seiner Nähe merkt sie, dass nicht alles im Leben von der Geschwindigkeit anderer abhängt. Jeder Mensch hat sein eigenes Tempo. Manche brauchen mehr Zeit, und das ist normal. Ihr Onkel lebt in einem anderen Tempo. Langsamer. Er versucht, die kleinen Dinge zu spüren, das, was bleibt – ein Schluck Tee, ein Blick, ein Lächeln. Weil jeder Tag der letzte sein könnte. Nur das Jetzt zählt.
Lina denkt, vielleicht müssen wir nicht immer funktionieren, nicht rennen, nicht alles so ernst nehmen. Ihr Onkel kämpft nicht für Noten, nicht für Leistung. Er kämpft einfach, um da zu sein.
Früher hat er viel erzählt, gelacht, sich mit allen unterhalten. Heute fehlt ihm oft die Kraft. Aber er ist da. Leise. Wach. Und das reicht.
Es ist einer dieser Tage, an dem Lina zum ersten Mal nicht an Schule denkt. Und genau das macht ihn so besonders.
Man weiß nie, wann es das letzte Mal von etwas ist. Deshalb sollten wir manchmal langsamer machen, den Moment genießen und nicht immer hetzen. Und wenn man mal eine Deadline nicht schafft, ist das nicht schlimm. Manchmal ist es wichtiger, mehr Zeit zu brauchen. Vielleicht ist genau das, was wirklich zählt.
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