Wenn FARBEN plötzlich FEHLEN
Zwei Stunden waren bereits vergangen und Miriam stand immer noch reglos da, den Blick verloren zwischen dem Screen ihres Handys und ihrem Spiegelbild hin und her schweifen lassend. Die Tränen hatten schon längst aufgehört zu fließen und nun, da der Raum nicht mehr von ihren erbärmlichen Schluchzern durchflutet wurde, vermehrten sich ihre schrecklichen Gedanken immer weiter. Egal, wie sehr sie sich wünschte, dass es aufhörte, die anfangs noch leisen Stimmen in ihrem Kopf waren inzwischen zu bedrohlichen Schreien angeschwollen.
„So etwas Hässliches hab’ ich ja noch nie gesehen!“
„Wer hat die Sau freigelassen?“
„Und sowas traust du dich zu posten?“
Die Kommentare unter Miriams letztem Post hallten nur so durch ihren Kopf und ließen sie erneut bis aufs Mark erschaudern. Aus dem Spiegel gegenüber starrte ihr ein vollkommen aufgelöstes Mädchen entgegen, dessen Augen und Nase vom vielen Weinen ganz rot und gereizt waren.
„Fette Kuh!“
„Ewww. . .“
Miriam hatte niemals gedacht, dass ihr harmloses Selfie solche Folgen nach sich ziehen würde und doch stand sie nun alleine im Badezimmer und eine ganz bestimmte, besonders bösartige Stimme in ihr hatte die Oberhand im Gewirr ihrer Gedanken ergriffen.
„Tu es!“
„Eine fette Kuh weniger auf der Welt!“
„Es würde dich sowieso niemand vermissen!“
Wie von selbst bewegte sich Miriams zitternde Hand auf den Badezimmerschrank vor ihr zu. Erst gestern hatte sie sich noch die Fingernägel pink lackiert. Die kräftige Farbe stach energievoll aus dem grauen Umfeld heraus, das Miriam umgab. Alles war grau, genauso wie es die Erinnerung an das einst so lebhafte Mädchen bald sein würde. Genauso, wie sich ihre Welt zu Schulbeginn dieses Jahres verfärbt hatte. Aber Miriam wollte kein Grau mehr! Sie konnte es einfach nicht mehr ertragen. Sie brauchte wieder Farben. Doch wo waren die nur geblieben? Vielleicht würden sie sie ja auf der anderen Seite erwarten. . .
Bevor das Mädchen sich besann, hatte sie den Schrank bereits geöffnet. Ihre blassen Finger ertasteten das kleine Döschen darin ohne zu zögern. Zum Zögern war es sowieso schon zu spät. Es gab kein Zurück mehr.
„Hässlich!“
„Fett!“
Die Stimmen hatten Recht, keiner würde sie vermissen. Sie war es nicht wert, dass man ihr hinterhertrauerte, genauso wie sie es nicht wert war zu leben. Miriam war doch nur eine Schande für die Menschen, die sie liebten. So wie ein hässlicher, fetter Fleck auf einem sonst makellos-weißen Tischtuch.
„Widerwärtig!“
„Igitt!“
Bald würde es vorbei sein.
„Töte dich doch einfach, du wertloses Miststück!“
Nichts als grau.
Und dann schwarz.
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