Wer bin ich, wenn ich nicht ich selbst bin?
Jeden Morgen wache ich mit dem Gedanken, was heute für ein beschissener Tag wird, auf. Meistens schlafe ich nach dieser Erkenntnis wieder ein, bis mein Vater in mein Zimmer kommt, mir die Decke wegzieht und meint, dass ich aufstehen muss. Muss ich das? Die Schulpflicht habe ich schon lange hinter mir. Wieso soll ich aufstehen, wenn ich weiterschlafen kann? „Für deine Zukunft“, flüstert mir meine eigene verschlafene Stimme zu. Meine Zukunft? Genau, die gibt es ja noch. Hätte ich fast vergessen, dass ich das alles nur für mich selbst mache. Ich stehe für mich selbst auf, putze für mich meine Zähne und ziehe mich für mich an. Wieso bin ich dann so verunsichert, wenn mir jemand sagt, dass ich was lassen oder anders machen soll? Wer hat das Recht, mir in meinem Leben, zu sagen, was ich tun soll und wer ich bin? Niemand. Absolut niemand. Wieso bin ich dann so, wie ich bin, und nicht so, wie ich wäre, wäre ich ich selbst? Kompliziert? Nein, gar nicht, es ist wie eine Matheformel, mein Leben meine ich. Wenn ich unzufrieden bin, subtrahiere ich, leite mir einen neuen Weg her oder kürze ich Menschen aus meinem Leben. Aber was passiert, wenn man Exponenten hinzufügt? Gefühlsschwankungen so hoch wie Zahlen. Sie sind so ungewohnt, obwohl von Anfang an klar ist, ob sie böse oder gut sind, kannst du sie nicht wegkürzen. Plötzlich sind sie da und du kannst sie nicht ändern. Diese kleinen verfluchten Zahlen machen mir meine „Lebensfunktion“ unlöslich. Irgendwie verunsichert mich das. Deswegen brauchen wir jemanden, der diese schwierige Formel zum 1x1 macht. Aber wer ist dieser jemand? Ich nicht. Wirklich nicht? Suchen wir uns nicht alle Menschen, die so sind wie wir? Nicht, weil wir faul sind, sondern weil wir es lieben und Angst vor dem Unbekanntem haben. Was lieben wir? Was liebe ich? Nicht mich, nein, Menschen, die mich verstehen, die so fühlen und denken wie ich. Die das wollen, was ich will, aber irgendwie auch was ganz anderes. Jemand, der mich positiv beeinflusst, aber mich auch mal Fehler machen lässt. Diesen einen für dich perfekten Menschen musst du finden, für ihn probierst du, die Hochzahlen alleine zu lösen, und für ihn scheiterst du daran. Wieso für ihn, wenn ich alles für mich machen soll? Weil ich meine Formel alleine nicht vollständig lösen kann, niemand kann das.
Aber was wäre, wenn ich alles selber machen würde? Wenn ich Entscheidungen vernünftig treffe und nicht, weil ich von anderen beeinflusst werde oder zu naiv bin. Ich mach sowieso das, was ich will, weil ich so bin wie ich bin. Vielleicht lerne ich irgendwann meine Entscheidungen als meine zu akzeptieren und höre wirklich nur auf Menschen, die mir helfen wollen bzw. das wollen, was ich will, weil sie so fühlen wie ich. Weil sie so sind wie ich, weil ich perfekt für mich bin. Irgendwie liebe ich es, irgendwie hasse ich es. Ich verstehe es nicht. Genau so wieso ich jeden Tag aufstehe, wenn ich nachts gezwungen schlafen gehe.
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