Wert und Verlust
Oft macht uns erst der Verlust den Wert der Dinge bewusst.
Ich stütze mich auf meinen Gehstock. Der Schnee knirscht unter meinen Schuhen, und eine meiner grauen, einst glänzend schwarzen Locken löst sich aus meiner Mütze und ich streiche sie hinters Ohr. Ich bin an meinem Ziel angekommen und sinke auf die altersschwachen Knie. Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder aufstehen werde, aber es ist mir egal. Viel zu lange habe ich mit den erdrückenden Schuldgefühlen gelebt. Ich blicke auf den Gedenkstein zu meinen Füßen, und meine schrumpeligen Finger fahren über die Gravur.
Ian
21. 06. 1964 – 21. 12. 1981
Tränen rinnen über mein Gesicht, und die Erinnerungen an jenen schicksalhaften Tag kehren in Wellen von Reue und bittersüßer Verzweiflung zurück. An jenen Tag, an dem zwei junge Seelen getrennte Wege gingen.
Ich reibe mir mit den behandschuhten Händen die Arme und hüpfe vor dem Haus auf und ab, um mich aufzuwärmen. Es ist ein bitterkalter Dezembertag. Die Tür öffnet sich und ein schlanker Siebzehnjähriger tritt ins Freie und kommt die vereisten Treppen zu mir hinunter. Der Name des Jungen ist Ian. Ich habe die Hand zum Gruß, er tut es mir gleich. Wir brauchen keine Worte, um uns zu verständigen. Ian ist taubstumm, er kann weder hören noch sprechen. Deshalb höre ich für ihn. Das habe ich schon immer, in den dreizehn Jahren, in denen wir uns kennen. Schweigend gehen wir einen Waldweg entlang, unsere langjährige Tradition. Nur zweimal im Jahr, immer zur Sonnenwende, fährt auf einer einsamen Bahnstrecke nahe dem Hause ein Zug vorbei. Der Wintersonnwendzug ist für uns beide das erste Vorzeichen von Weihnachten. Bald schon stehen wir vor den Gleisen und genießen die Stille. Ian hat mir einmal erzählt, dass er die Stille fühlen könne. Den ganzen Weg über hat er sich schon seltsam verhalten. Auf einmal streckt er mir seine ausgestreckte Hand entgegen und winkelt Mittel- und Ringfinger ab. Ich starre ihn einen Moment lang an, bevor mir klar wird, dass ich sein Zeichen richtig gedeutet habe. Ich atme scharf ein. Ich liebe dich! Die Welt beginnt zu schwanken, die schneebedeckten Bäume verschmelzen zu einer blassgrauen Masse. Ich schüttle den Kopf, um zur Besinnung zu kommen. Die Umgebung nimmt wieder Gestalt an und mit ihr der Junge mit seinem ausgeblichenen, blonden Haaren. Plötzlich ist die Vorstellung so nah bei ihm zu sein unerträglich. „Geh, bitte!“ keuche ich. Ian tritt ein paar Schritte zurück, bis er beinahe über die Schienen stolpert. Seine eisblauen Augen schwimmen vor Schmerz und Trauer. Ich presse die Hände auf die Ohren, drehe mich von Ian weg und versuche meine Atmung zu kontrollieren. Die ganze Zeit über spüre ich seinen Blick auf mir. Ich blinzle. Mein Kopf pocht unangenehm und erschwert es mir, meine rasenden Gedanken zu sortieren. Ian liebt mich? Der Ian, der für mich da war, als ich mich von der Welt verlassen fühlte? Der Ian, der-
Ein starker Windstoß reißt mich aus meinen Gedanken. Rote Flecken spritzen in den Schnee. Blut. Mein Körper erstarrt. Der Zug.
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