Wie aus Chiffonvon Katrin Schwarz
Unbeteiligt zog Laura an den hellen Strähnen, die durch ihr Haar liefen. Mit der anderen Hand blätterte sie durch die Seiten irgendeines Modemagazins, das ganz oben auf dem Stapel lag. Wie die meisten Wartezimmer wirkte der Raum kahl und unpersönlich, die Versuche, das zu ändern, waren nur Streusel auf einem verpatzen Kuchen. Einer dieser Streusel waren die vielen perfekten Gesichter, die Laura von quietschbunten Seiten entgegenstrahlten. Nach zehn Seiten knickte sie behutsam aber entschlossen die linke obere Ecke um. Die anderen im Raum schenkten ihr keine Beachtung, und niemand merkte ihre kleine Rebellion gegen die Makellosigkeit, die sie auf einmal abstieß. Kurz blickte sie von dem glänzenden Papier auf und beobachtete ihre Mitinsassen in dem eigenschaftslosen Zimmer. Laura kam nicht umhin sich zu fragen, ob es wohl an dem Licht lag, dass sie alle irgendwie grau wirkten. Grau war keine Hautfarbe. Keine natürliche jedenfalls. Aber hier wirkte auch nichts natürlich. Vielleicht musste man sich da einfach anpassen. Es war kein Spiegel in der Nähe und Laura fragte sich unwillkürlich, wie sie wohl auf die anderen wirken musste. Ihr Haar war strähnig, das vereinzelte blond hatte seinen Glanz verloren und sowieso war es nicht frisch gewaschen. Dennoch hatte sie es heute nicht übers Herz gebracht, sich einen Pferdeschwanz zu binden. Ihre Hand lag nach wie vor an der linken oberen Ecke des Magazins und bedeckte das kleine Eselsohr. Sie gab sich Mühe, ihren Blick nie zu lange auf einer Person verweilen zu lassen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Dass ihre Haare einen Teil ihres Gesichts wie ein zerfranster Vorhang verdeckten, half. Ein Mann zwei Stühle weiter starrte ins Leere, vielleicht auch aus dem Raum hinaus. Alle paar Minuten rieb er seine Handflächen über die Oberschenkel, die in einer erstaunlich teuer aussehenden Chiffonhose steckten. Zumindest hielt es Laura für Chiffon, so genau konnte sie es nicht sagen, aber sie mochte, wie sich das Wort anfühlte. Es musste teuer sein, wenn es Chiffon ist, dachte sie, es klang besser, wenn es teuer war.
Sie blätterte um, einmal, zweimal. So als wäre sie tatsächlich interessiert. Hob die Augenbrauen. Runzelte die Stirn. Es lenkte sie ab von dem dunklen Knoten knapp unter ihrem Herz, oder doch gerade darum herum. Die glatten Seiten knisterten in die Stille hinein, sie blätterte weiter. Machte einen Knick, diesmal aber unten, rechts. Die Frau gegenüber trug eine Brille mit bunter Fassung. Außerhalb dieses Raumes hätte Laura die Farben wohl als fröhlich bezeichnet, von rot bis grün. Hier wirkten sie deplatziert um Augen herum, die so grau waren, wie die Haut, die sie umgab. Die Beine hatte sie übereinandergeschlagen, in hochhackigen Schuhen wippte das linke auf und ab. Sie biss wohl nie an ihren Nägeln, denn sie waren lang und ebenso bunt, wie die Rahmung ihrer Sehhilfe. Laura wagte einen Blick auf ihre Finger. Abgekaut, bald würden sie bluten. Sie versteckte sie unter den glänzenden Seiten und mit ihnen alle Gedanken daran. Daran warum sie bis aufs Blut gegen sich selbst kämpfte. Der Schmerz saß so tief, dass sie Angst hatte, die Dumpfheit würde sie wieder einholen, wenn sie weiter in ihren Gedanken kramte. Sie beobachtete lieber weiter die Frau, ein Paradiesvogel gefangen, wahrscheinlicher in sich selbst als hinter Stäben. Laura machte einen weiteren Knick in das bereits vorhandene Eselsohr, bog es hin und her. Bald würde die Ecke abreißen. Sie musste auf einmal an ein Gedicht denken, das sie vor Jahren, es war noch in der Schule gewesen, durchgenommen hatten. Stäbe waren vorgekommen. Ein gebrochener Wille. Ein Panther. Der Panther. Es war von Rilke gewesen, fiel ihr nun wieder ein. Sie spielte weiter mit der umgeknickten Ecke und ließ dabei den Wasserfall an Haaren tiefer in ihr Gesicht fallen. Als sie vorsichtig wieder den Blick hob, fragte sie sich, warum niemand redete. Es war so leise, auf eine unangenehme Art und Weise still. Dabei wollte sie gar nicht reden. Sie schielte wieder zu dem Mann mit der Chiffonhose. Chiffon ist ein glückliches Wort, befand sie. Wäre der Panther in Chiffon glücklicher gewesen? Sie musst kurz über diesen absurden Gedanken lächeln. Chiffon gefiel ihr, wie der Panther. Allerdings fühlte sie sich hier mehr wie hinter Stäben, zu träge, um die Augen ganz zu öffnen für die Welt. Lieber trüge sie jetzt Chiffon.
Das bekannte, fröhliche Gesicht, das sie anlächelte, fragte sie, wie es ihr ginge, nachdem sie durch Tür getreten war und sich gesetzt hatte. „Gut“, sie wollte kein Lächeln bemühen, „ich meine, es war schon schlechter, denke ich“ Das Gesicht vor ihr wurde ernster, blieb trotzdem freundlich wie immer, auch wenn es jetzt leicht die Augenbrauen hob. Nicht als Frage, sondern als Aufforderung, oder vielleicht doch etwas von beidem. „Das heißt, ich stehe auf in der Früh“ „Das ist gut“ „Vor allem ist es schwer“, murmelte Laura als Antwort. Sie hätte gern deutlicher gesprochen, aber manches konnte man nicht so laut sagen. Die eigenen Gedanken könnten es sonst hören. Es gibt diese kostbaren Sekunden, irgendwo zwischen Schlaf und Bewusstsein, in denen man einfach nur existierte. Die Gedanken waren dann nur lose Bindfäden, die sich noch nicht zu verbinden wussten. Es war ein wohliger Ort des Unwissens. Sie fühlte sich dann wieder wie ein Kind, gut behütet, sorglos. Aber immer verlässlich brach, sobald sie ganz wach war, wieder alles über sie hinein. Der Schmerz und die Hilflosigkeit drückten sie dann tiefer in die Matratze und sie versuchte verzweifelt wieder in den Zustand zurückzufinden, indem sie sich einfach nur über die Sonne gefreut hatte, die warm durchs Fenster schien. Mit jeder Minute, die sie länger wartete, wurden ihre Gliedmaßen schwerer, sie wogen Tonnen, wie die Last, die auf sie zu warten schien. Jeden Tag aufs Neue. Laura sah wieder hoch in das Gesicht, das ihr so bekannt geworden war. Sie sagte nichts von alldem laut. Sie blickte stattdessen auf ihre Nägel, zog an einem Stückchen Haut und wartete bis mit dem Schmerz auch das Blut zu rinnen begann. Ein kleiner Tropfen und sie flüsterte: „Ich …“ Sie brach wieder ab und holte Luft. „ … mein Boden, er ist weg.“ Sie vermied Augenkontakt und suchte stattdessen nach einem Taschentuch, drückte es auf die betroffene Stelle, verdeckte das Blut.
Es musste eine Stunde vergangen sein, vielleicht auch eineinhalb. Für so viel Zeit hatte sie zu mindestens bezahlt. Sie stieg in ihr Auto und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Einatmen. Ausatmen. Ihr Brustkorb zitterte und sie legte die Hände ans Lenkrad, klammerte sich daran fest bis ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie hielt die Luft an, schloss für einen kurzen Moment die Augen, nur um gleich darauf wieder tief ein und auszuatmen, als wäre es ihr eigenes wortloses Mantra. „Chiffon“, flüsterte sie vorsichtig in den Innenraum des Wagens, „Chiffon“. Sie kniff wieder die Augen zusammen, wenn sie nichts sah, konnte sie auch niemand sehen. Dann kramte sie in ihrer Tasche nach ihrem Handy. Sie wischte bis zur gesuchten Google Leiste und tippte das Wort „Chiffon“ ein. Ihre Augen flackerten über die Bilder. Sie warf das Handy in die Mittelkonsole und startete ihren blauen Subaru. Bevor sie ihn auf die Straße lenkte, wischte sie sich mit dem Handrücken über die tränennassen Wangen. Es war kein Chiffon gewesen. Die Hose von der Gestalt im Wartezimmer. Chiffon war anscheinend ein feiner Stoff. Laura dachte an die Bilder von Kleidern, die gerade noch auf ihrem Bildschirm erschienen waren. Bunte Stoffe, die sich fröhlich um glückliche Körper schmiegten. Sie bog auf die Hauptstraße. Eine nette Zierde für leere Hüllen. Lenkte den kompakten Subaru in den Verkehr. Aber wie fragil der Stoff gewirkt hatte. Ein unvorsichtiges Reißen und er war nicht mehr zu retten. Stiche könnte man kaum vertuschen. Die Ampel vor ihr schaltete auf rot und Laura nahm ihren Fuß vom Gas. Langsam näherte sie sich der Haltelinie, darauf bedacht so viel wie möglich die Motorbremse zu nutzen. In der Fahrschule hatten sie damals gelernt, dass mache man so. Gut für die Umwelt. Sie musste sich etwas nach vorne beugen, um einen guten Blick auf das Farbenspiel der Verkehrsregelung zu haben. Während sie wartete, dreht sie die Lautstärke des Autoradios lauter. Sie lehnte sich zurück und rieb die Handflächen über ihre Oberschenkel. Kurt Cobains Stimme hallte durch das Auto und sie schloss für einen Moment die Augen. Einatmen. Ausatmen. Sie war sich nicht sicher wie, aber irgendwie hatte sie diesen Tag fast überstanden. Geschafft. Und es war nicht der erste gewesen. Wieder dachte sie an Chiffon. Wie leicht er doch riss. Vielleicht, aber nur vielleicht, war von ihr doch noch mehr übrig als eine Hülle. Sie hatte den Rissen standgehalten. Vielleicht war sie doch robuster. Nicht wie Chiffon. Hinter ihr hupte jemand. Denn die Ampel war grün.
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