Wie ein Kaktus
Ich sitze auf den steinernen Stufen, die zu unserer Haustür führen, und halte ihre Hand. Wir schweigen. Hinter uns ist das, was wir einmal unser Zuhause nennen konnten, doch die Fassade mit den schwarz verkohlten Flecken ist kaum wiederzuerkennen. Ich weiß genau, wie es hinter mir aussieht. Zu lange habe ich auf dieses Haus gestarrt, zu genau habe ich mir dieses Bild eingeprägt, von dem Zuhause, das nicht mehr unser Zuhause ist. Sie drückt meine Hand und erst jetzt merke ich, dass meine Augen ganz glasig sind und ich blinzle. Dann drehe ich mich zu meiner kleinen Schwester, doch sie sieht mich nicht an. Sie starrt stur geradeaus, obwohl ich weiß, dass sie weiß, dass ich sie beobachte. Das macht sie ständig. Seit dem Brand. „Wir werden wegziehen“, ist mein lahmer Versuch, ein Gespräch zu beginnen. „Ich weiß.“ „Nein, du hast nicht verstanden, wir werden wegziehen. Nicht nur weg von hier“, ich deute auf das ausgebrannte Haus, „weg aus dieser Stadt, vielleicht sogar weg aus diesem Land!“ „Ich weiß.“ Endlich sieht sie mich an. In ihrem Gesicht ist keine Spur von Trauer, nein, ihr Gesicht ist völlig emotionslos, und genau das macht mir so Angst. Ich bin panisch geworden und habe geweint, als ich den Rauch und das Feuer gesehen habe, doch sie ist ausdruckslos geblieben. Ich denke an unser neues Zuhause und mir wird plötzlich übel. Ich möchte nicht fort, auch wenn ich weiß, dass wir unmöglich bleiben können. Meine kleine Schwester legt mir einen Arm um die Schulter und sofort regen sich in mir die Schuldgefühle. Ich bin die große Schwester. Ich sollte die sein, die sie tröstet und nicht umgekehrt. Und doch sitze ich hier am Rande der Verzweiflung und weiß nicht, wie es weitergehen soll. Deshalb lasse ich ihre Hand ein bisschen über meinen Rücken streichen. Dann sehe ich sie wieder an und als ich ihre leeren Augen in ihrem leeren Gesicht sehe, muss ich sie fragen: „Warum weinst du nicht? Wie hältst du das hier aus?“ Sie antwortet nicht gleich, aber sie zieht etwas aus ihrer Jackentasche hervor. Es ist ein kleiner, runder Kaktus. „Das ist das Einzige, was aus meinem alten Zimmer heil geblieben ist“, sagt sie. Als ich schweige, spricht sie weiter. „Der Kaktus kämpft nicht. Du, du kämpfst mit Tränen und Fragen gegen die Verzweiflung, aber der Kaktus kämpft nicht. Der Kaktus schützt sich. Seine Stacheln halten die Außenwelt von ihm fern. Nicht alles, aber zumindest einen Teil. Der Kaktus kämpft nicht, aber er ist zäh. Ich habe diesen Kaktus kaum gegossen, aber er hält auch ohne Wasser durch. Und solange dieser Kaktus seine Stacheln von sich streckt, werde ich stark sein und an genau diesen Gedanken werde ich immer denken, wenn ich ihn anschaue, auf meinem neuen Fensterbrett, in unserem neuen Zuhause.“
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