Wie Schnee der schmilzt
Er ist müde. Gedämpftes Morgenlicht scheint in das Zimmer und hüllt es in ein deprimierendes Mattgrau. Er will liegen bleiben, will, auch wenn nur für einen kurzen Augenblick, die Stille genießen. Doch dafür ist keine Zeit. Er muss los. Er muss los und er ist schon wieder zu spät dran. Er reißt die Augen auf, schnappt seine Bücher von dort, wo er sie gestern Abend hat liegen lassen, und wirft sie zusammen mit seinen Sportschuhen in die Tasche. Am Schreibtisch stehen unter tausenden Zetteln halb vergraben noch die Überreste seines Abendessens. Das räum ich auf, wenn ich nach Hause komme, verspricht er sich und isst ein Stück kalte Pizza. Für mehr ist keine Zeit. Schnell dieselben Klamotten wie gestern anziehen, wird schon keinem auffallen. Er schlüpft in die Schuhe, wirft sich die Jacke über und will schon aus der Tür sprinten, doch etwas hält ihn zurück. Er friert mit der Türklinke in der Hand ein und fällt in seine Gedanken.
Er erinnert sich vage an einen Traum, den er einmal vor langer Zeit hatte. Ein Junge, der nach dem Licht der Sterne greift, es festhalten, einfangen will, bis er einmal selbst den Nachthimmel erleuchtet. Doch die Erinnerungen verblassen langsam. Er versucht sie festzuhalten, sie aufzubewahren, aber sie schmelzen in seiner Hand wie Schnee. Der Traum rinnt durch seine Finger und tropft auf den Boden… Doch das ist in Ordnung, denn er hat keine Zeit zu träumen. Er muss los. Er muss los und er ist schon wieder zu spät dran. Er atmet einmal tief durch, öffnet die Tür und tritt hinaus in den Morgennebel.
Viel zu spät kommt er nach Hause, stolpert durch die Tür, fällt in sein Bett und bleibt erschöpft liegen. Er hätte noch so viel zu tun, doch er will nur für einen Moment liegen bleiben. Nur ganz kurz. Das klare Mondlicht scheint durch das Fenster, lässt Schatten auf den Wänden tanzen, und die Zeit scheint stehen zu bleiben. Wie in Trance dreht er den Kopf zur Seite, fort von den Schatten und in Richtung Licht.
Er schaut aus dem Fenster, blickt auf die Lichter der Stadt hinab, die so unerreichbar weit unter ihm liegen, und beobachtet wie der Wind den Schnee durch die Straßen wirbelt. Er stellt sich vor, wie sich der Schnee auf seiner Hand anfühlt. Er stellt sich vor, wie es wäre, das Fenster zu öffnen, und obwohl er weiß, dass er morgen Früh wieder viel zu spät durch die Tür rennen wird, stellt er sich vor, einfach durch das Fenster zu steigen, in die Stille zu fallen, von ihr umgeben zu sein. Er schließt die Augen und mit einem traurigen Lächeln, so eines wie bei dem Gedanken an längst vergangene Zeiten, erinnert er sich an seinen Traum. Eine einzelne Träne rinnt seine Wange hinunter, und die Lichter der Stadt brechen sich in ihr wie in einem Diamanten.
Ich bin müde. Ich schließe meine Augen für eine weitere traumlose Nacht und frage mich:
Können wir noch träumen?
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