Wieso?
Geh bitte, nimm mal ab.
Geh bitte, schau dich mal im Spiegel an.
Das Leben von Julia war mal leichter. Als sie ein Kind war, hatte man nicht so sehr auf ihr Gewicht geachtet, wie man es jetzt macht. Was keiner weiß ist, dass Julia isst, um Sachen zu vergessen, um den Tod ihrer Mutter zu vergessen und um ihren Vater, der Alkoholiker ist, zu vergessen. Julia hatte nie Freunde, sie war immer ein Außenseiter, was sie nie wirklich störte, weil sie ja ihre Mutter hatte. Nun da sie keinen mehr zum Reden hat, ist Julias größter Wunsch, eine Freundin zu haben. Jemanden, der sie so mag wie sie ist. Jemand, der sie versteht.
Geh bitte, ignorier sie einfach.
Geh bitte, das sind nur Kinder.
Geh bitte.
Julias Wunsch, eine Polizistin zu werden, wird leider nicht in Erfüllung gehen.
Jeder weiß, wo Julia ist, macht aber nichts. Julia schaut vom Hochhaus hinunter, mit Tränen in den Augen, und wünscht sich in diesem Moment, alles mit ihrer Mutter zu besprechen. Ihr Vater hat sie aufgegeben, er hat sich selbst aufgegeben.
Geh bitte, wir machen nur Spaß.
Geh bitte, dich wird sowieso keiner ernst nehmen.
Julia setzt sich hin und überlegt, was sie noch hier hält. Sind es die Pflanzen in ihrem Zimmer, um die sie sich sorgen muss, weil sie sonst aussterben oder sind es doch auch die Tiere, die sie im Hinterhof immer füttert. „Was werden sie essen, wenn ich nicht mehr da bin“, denkt sich Julia, „Was wird aus Papa.“
Geh bitte, mach nicht so ein Aufstand.
Geh bitte, du Schwein du willst doch nur Aufmerksamkeit.
Julia hört den Personen zu, die unten darauf warten, dass sie springt. Sie will ihnen nicht diesen Gefallen machen, aber es geht nicht anders. Sie hat sich entschieden. Sie denkt noch einmal an ihre Vergangenheit, wo alles noch in Ordnung war. Wo keiner sie wegen ihres Gewicht schlecht gemacht hatte.
Geh bitte, nimm stattdessen einfach ab.
Geh bitte, du traust dich eh nicht.
Julia denkt an ihrem Vater, der seit ein paar Tagen nicht mehr nach Hause gekommen ist. Sie fragt sich, wo er ist und ob er sie allein gelassen hat. Sie fragt sich, ob keiner sie wirklich schätzt. Die Frage, ob irgendjemand auf dieser Welt sie nur ansatzweise irgendwie mag, wiederholt sich in ihrem Kopf immer wieder. Was hat sie falsch gemacht, denkt sie sich.
Geh bitte, stell dich doch nicht so an.
Geh bitte, beende es endlich.
Sie mag ihren Körper doch genauso wenig wie all die anderen Leute. Sie wäre gerne so dünn wie Natascha, das Mädchen das sie dauernd fertig macht. „Wieso bin ich nicht gut genug“, fragt sie sich.
Sie hört weiter den Schülern unten am Boden zu.
Du Fettsack, komm jetzt runter.
Du Schlampe, hör auf, so geil auf Aufmerksamkeit zu sein.
Geh bitte, komm jetzt runter.
Geh bitte, Julia.
Sie will das alles jetzt endlich beenden und steht auf. Sie hört Jubel von unten. Sie versucht, nicht zu weinen, was leider nicht funktioniert. Dass so viele Leute ihr den Tod wünschen, verletzt sie. Sie will doch nur in Ruhe leben, mit ihrer Mutter. Sie denkt noch mal an ihre Mutter.
Geh bitte, SPRING.
Sie springt.
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