Winterstadt
Die Sterne am fremden Himmel wirkten näher als die, die ihr vertraut waren, und sie verblassten mit dem heraufziehenden Morgen, der seit langem zum ersten Mal wieder der ihre war. Dort draußen, hinter den langen weißen Vorhängen, den Nebelschwaden aus weichem Stoff lag eine fremde Stadt, weniger vertraut noch als der Himmel und trotzdem näher, wie das Bild eines beinahe schon verklungenen Traumes. Sie stand am Fenster und Vorhangstoff wehte ihr ins Gesicht. Was tat man an einem Ort wie diesem, einem fremden Ort, einer Stadt, mit der einen nichts verband und mit der nichts verbunden war als eine Markierung auf der Landkarte? Eine Stadt wie eine Zeichnung auf ansonsten leerem Papier, die halbfertige Skizze eines Künstlers.
Sie erinnerte sich daran, eine Straße entlangzugehen und sich zu wünschen, niemals ans Ziel zu kommen. Sie erinnerte sich an Stille, die niemand zu unterbrechen wagte, die außer ihr vielleicht auch niemandem aufgefallen war. Sie erinnerte sich an den letzten Rest eines beinahe schon verblichenen Gefühls der Freiheit, an einen Baum mit hohen Stämmen, einen Mond, so weiß und klar wie Porzellan, einen anderen Himmel mit anderen Sternen, an dem sie eins gewesen war mit dem Mond. An die Zeit, in der die Tage begonnen hatten, ihr zu entgleiten. Dieser Morgen gehörte ihr allein. Er fühlte sich fest an und klar, auf scharf gestellt, intensiver als die Tage der letzten Zeit.
Es klopfte, die Tür wurde geöffnet und ein Schwall kalter Luft wehte herein, ein Wirbel aus gefrorenen Träumen, ein Geschenk der Welt da draußen. Ihr Bruder trat in den Raum. Er setzte sich auf das Bett, auf die mit geblümtem Stoff überzogene Decke, ein Sommergarten mitten im Winter, ein Beet von Erdbeeren, blauen, roten und gelben Blumen, Brombeerranken und Weinreben, Himbeerstauden und Schmetterlingen. Das wird schon, sagte er und sie nickte. Ja sie hatte es gespürt, als sie geflogen war mit den Sternen am fremden Himmel, als sie es gewesen war, die mit weiten Federschwingen den Morgen heraufgezogen hatte, der Vogel, der zugleich nicht mehr war als eine kleine Gestalt am Fenster, ein Schatten in der Wintermorgensonne. Nur, ob sie ihr trauen konnte, wusste sie nicht, der Hoffnung. Du darfst nicht aufgeben, sagte ihr Bruder, und sie sah, wie sich kurz der Schatten der alten Sorgen über sein Gesicht legte, und ihr wurde es eng in der Brust, also lächelte sie, und er lächelte auch.
Sie saßen da, in der fremden Winterstadt, im Sommerblumengarten, hinter den sanft rauschenden Nebelvorhängen, die kalte Sonne am fremden Himmel, der vertrauter wurde mit jeder Minute. Still lange, dann ein leises Gespräch, Lachen, vorsichtig, erst zögernd, doch das Licht war zu hell und der Morgen zu klar für Schwermut, für Sorgen. Leicht war es nun, und der Wind schwebte, eine lebendige, kühle Brise durchs halb geöffnete Fenster, schwebte durch die Straßen der Stadt, und die Welt war groß, die Welt war weit und glänzend, wie ein Vogel gleitet man über den Winterhimmel, fort, auf, zusammen.
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