Wintertag
Der kalte Wind zerzaust meine Haare, als ich durch die verlorenen Gassen dieser Stadt gehe. Neben mir fliegt ein Stapel Zeitungen aus den Händen eines jungen Mannes und verteilt sich auf dem nassen Asphalt, einige finden ihren Weg in die reißende Strömung des angrenzenden Flusses. Der Mann schaut ihnen nur hoffnungslos hinterher, und sammelt schließlich den rettbaren Rest seiner Magazine ein.
Bei einem kleinen Park angekommen bemerke ich, wie karg und farblos die Landschaft im Winter doch aussieht. Die Bäume ohne Blätter gleichen einem einst mit Leben gefüllten, verlassenen Haus und die sonst mit Kindergelächter gefüllten Spielplätze sind unter einer undurchdringlichen Schneedecke begraben. Mein Blick fällt auf eine Schaukel, die vom stätigen Wind hin- und hergeschaukelt wird. Die Sicht lässt mich kurz innehalten und ein Schwall von Melancholie erfüllt mich. Ich sehe glückliche Erinnerungen meiner Kindheit, des Sommers und dem Gefühl der Zufriedenheit vor mir, verdränge sie aber schnell wieder und setze meinen Weg fort.
Schließlich komme ich bei meiner Bushaltestelle an. Der Bus hat, wie jeden Winter, eine Verspätung. Ich bemerke eine Zeitung, die auf der Wartebank liegt und lese die Headline des aufgeschlagenen Artikels: „Können wir noch?“. Irgendetwas an dieser Frage ruft Neugierde in mir hervor, aber bevor ich die Antwort darauf lesen kann, kommt der Bus an.
Die drei Worte bleiben mir im Gedächtnis hängen, auch, als ich mich schließlich im Bus auf meinen Stammplatz setze. Auf was hat sich die Frage wohl bezogen? Kann ich noch? Ich habe keine Antworten auf die Fragen. Ich wünschte, ich hätte die Zeitung mitgenommen.
Als ich aussteige, fällt die erste Schneeflocke von heute vor mir auf den Asphalt, ein Dutzend weitere folgen gleich darauf. Der kalte Wind hat sich beruhigt und Platz für die flauschigen Schneeflocken gemacht. Der winterliche Anblick gleicht dem einer Szene eines Weihnachtsfilmes, und löst in mir unerwartet nostalgische Gefühle aus. Meine Stiefel hinterlassen tiefe Abdrücke, meine schwarze Kleidung verfärbt sich langsam weiß und meine zerzausten Haare glänzen in einer neuen, eiskalten Farbe.
Aus einem Wohngebäude stürmen Kinder mit dicker Winterkleidung in die verschneite Landschaft. Mir fallen immer mehr Menschen auf, die kurz stehen bleiben und sich die mit einer Schneedecke überzogenen Laternen und Hausdächer anzuschauen. Die Gesichter in den Straßen leuchten vor Bewunderung und Fröhlichkeit. Irgendetwas an ihrer Freude steckt mich an und so lasse ich mir etwas mehr Zeit auf meinem Weg nach Hause, um länger in der glücklichen Atmosphäre zu verweilen.
Zuhause angekommen hänge ich meine nasse Kleidung auf die Heizung, dann kommt mir auf einmal wieder die Frage aus der Zeitung in die Gedanken. Ich blicke aus dem Fenster auf die verschneite Landschaft, sehe all die Menschen, die sich über den Neuschnee freuen. Ich lächle kurz und streiche mir eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich habe meine Antwort auf die Frage gefunden.
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