Wir sind die Moiren
Wir sind die Moiren.
Nennt mich Heimarmene. Das ist Ananke. Wir sind die Moiren und wir passen auf die Menschen auf, wir schützen, wir halten, wir beobachten. Wir beobachten alles.
Wir machen es nicht gerne, aber wir tun es. Wir sind die Moiren und unsere Mission ist Nemo.
Nemo, der viel zu müde, viel zu zerstört in der Gasse sitzt, sein Lebensfaden ist in Atropos' Händen. (Schneide ihn durch, Atropos. Er kann nicht mehr. )
Nemo ist niemand, war nie jemand. Er hat eine Geschichte, aber diese Geschichte ertrank bei den Sirenen. Nemo stirbt. Er stirbt an Zigarettenrauch, an vergessenen Träumen und dem Leben selbst.
Helden in der griechischen Mythologie sterben durch Monster, durch Suizide, durch Flüche.
Aber Nemo ist kein Held, das war er nie. Er stirbt langsam, zu langsam. Wir wollen ihn nicht leiden sehen. Er leidet schon zu lange, wispert Gebete, verzweifelte Bitten dringen über seine Lippen, aber es ist nicht Gott, der sie erhören soll.
Es gibt keinen Gott, nicht für ihn.
Wen - oder was - es für ihn gibt, sind wir: die Unaufhaltsamen, vielleicht sogar die Grausamen. Er fleht nicht zu unseren Schwestern, sondern zu uns. Er hat erkannt, dass nur wir sein Schicksal kennen. Er will gerettet werden - bittet uns, zu helfen.
Können wir das, Heimarmene?
Ich weiß nicht, ob Atropos uns lässt. Atropos, Schwester? Können wir ihm helfen?
Was erwartest du, Heimarmene?
Eine Antwort?
Auch wenn Atropos uns gewähren lässt, ist unsere Kraft begrenzt. Wir sind Zuschauer in dem erbarmungslosen Theaterstück, das sich "Leben" nennt. Nemo ist der Screenwriter, Regisseur und Schauspieler zugleich.
Wir können nur warten, hoffen und flehen.
Aber Atropos ist grausam. Sie wird seinen Lebensfaden erst durchschneiden, wenn sie ihn zur Genüge leiden hat sehen.
Wir können nichts tun.
(Oh, Nemo. Du warst einmal stark - stärker noch als Herkules, denn Diomedes' Pferde in deinen Gedanken hast du rasch zähmen können.
Oh, Nemo. Du warst einmal silbern - du hast so hell geleuchtet wie Orion. Du hast den Sternen nachgejagt.
Oh Nemo. Du warst einmal voraussichtig - bevor die Schlangen sich um dich wandten wie um Laokoon und deinem Leben ein Ende setzten.
Was ist aus dir geworden? )
Wir sind die Moiren. Wir passen auf dich auf, der du so gekrümmt am Boden liegst, deine Kleider dreckig, deine Augen leer, deine Zukunft dunkel.
Nemo? Hörst du uns?
Er antwortet nicht!
Was willst du tun? Keine Bestie hat ihn zerstört. Das war er selbst. Ja, Nemo leidet ohne etwas verbrochen zu haben. (Das Leben hat versagt. Das Leben - und wir. Wir hätten uns besser um ihn kümmern sollen. )
Er stirbt-
Schwester, er ist fort, Atropos ist zur Tat geschritten.
Er ist gefallen wie Ikarus.
Jetzt kann ich es ihm sagen:
Fall doch, Ikarus. Du warst nie Ikarus, nicht Arachne, selbst Niobe hat ein besseres Schicksal als du.
Du hast keinen echten Namen, und wenn du einen hättest, wäre er nicht einmal Odysseus, denn du bist kein Held.
Du bist Nemo.
Fall doch, Nemo.
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