Wo ist das kleine Mädchen?
Müde Augen. Blasse Haut. Das Bild, das mir im Spiegel entgegenblickt, ist nicht schön.
Ich sehe Wut und Kummer in diesen Augen. Tiefe, aber unergründliche Gefühle. Sie lodern unter dem falschen Lächeln, mit welchem ich tagtäglich meine Mitmenschen täusche.
Ein Kloß formt sich in meinem Hals, mein Spiegelbild verschwimmt. Was ist nur falsch mit mir? Warum kann ich nicht einfach wie alle anderen glücklich sein?
Mit Mascara und Lippenstift versuche ich, mich etwas frischer aussehen zu lassen. Aber egal wie oft ich sie auftrage und abwische, es sieht falsch aus. Zu alt.
Ich bin doch erst ein kleines Mädchen.
Doch die Jugendliche, fast schon Erwachsene, vor mir stimmt mir nicht zu. Nur noch ein Jahr, dann bin ich offiziell erwachsen.
Wo ist die Zeit geblieben? Ich hätte schwören können, gestern erst habe ich meinen neunten Geburtstag gefeiert. Mit bunten T-Shirts und frischem, duftenden Schokoladenkuchen. Mit all meinen Freunden. Was aus ihnen wohl geworden ist?
Wie sehen sie jetzt aus, so viele Jahre nach dem letzten Treffen? Wissen sie schon, was sie werden wollen? Was sie aus ihrem Leben machen sollen? Oder sitzen sie, wie ich, jeden Tag nach der Schule alleine Zuhause und warten ungeduldig auf den nächsten Tag? Fangen sie vielleicht tatsächlich etwas Sinnvolles mit ihrer Zeit an?
Aber diese Fragen werden mir wohl in nächster Zeit nicht mehr beantwortet werden.
Ich schaue mir noch einmal tief in die Augen, bevor mein Blick den Rest meines Körpers hinunter wandert. Er bleibt an meinem Oberteil hängen. Es ist rot - meine Lieblingsfarbe -, aber es ist viel zu eng. Es sitzt viel zu eng für junge Mädchen wie mich. Was habe ich mir dabei gedacht, das anzuziehen?
Ich erinnere mich. Ich wollte wie Ella aussehen. Wie die Beliebteste und Hübscheste der Klasse, vielleicht sogar aus der gesamten Schule. Aber ich bin einfach nicht wie sie. Ich habe nicht ihren Supermodel-Körper und schon gar nicht ihren Mut. Warum kann ich nicht einfach wie sie sein? Witzig, hübsch, perfekt und irgendwie gut in allem. Und sie ist auch noch so unfassbar nett.
Ich zwinge meinen Blick vom Spiegel weg. Vom Spiegel der grausamen Wahrheit. Ich bin nicht mehr neun und werde es auch nie wieder sein. Damals war das Einzige, worum ich mir Sorgen machte, die Frage, ob meine Eltern mich nicht zu früh abholen, dass ich auch ja genug Zeit mit meinen Freunden verbringen kann.
Der Gedanke an damals bringt ein kleines Lächeln auf meine trockenen Lippen. Ich wünschte, ich könnte in der Zeit zurückreisen. All diese kleinen Momente noch einmal erleben.
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