Wohin geht er?
Es war ein Dienstag, 07: 46. Niemand hatte dem Mann einen zweiten Blick zugeworfen, der schon seit 34 Minuten am Bahnsteig stand. Er schien wie jeder andere Reisende. Seine Schuhspitzen berührten vorsichtig die Sicherheitslinie. So stand er regungslos da, vollkommen starr, nur seine Haare bewegten sich hin-und-wieder zaghaft in der beißenden Winterbrise. Er versuchte zu zählen. Er zählte, um sich auf etwas konzentrieren zu können, welches nicht seine ohrenbetäubenden Gedanken waren. Doch immer wieder befanden sich lange Pausen zwischen den Zahlen. Er war gerade bei 126, aber es schlichen sich oft Wörter, ganze Gedankenstränge zwischen die Nummern.
127. Hatte er genug? 128. Ja, genug zu essen, sagen, tragen und tun und doch-. Er verstand es nicht, eigentlich hatte er ja genug. Aber es fehlte ihm doch an etwas, denn genau davon hatte er genug. Er hatte genug davon, genug zu essen, sagen, tragen und tun zu haben und genug davon, genug davon zu haben, dass er eigentlich genug hatte. Es war verwirrend und schrecklich laut. Er hatte mittlerweile blaue Lippen, weil es so kalt war. Er schloss die Augen. 129. Bitter knüllte er die Hand zu einer Faust zusammen. Was wollte er bloß erreichen, indem er hier stand und in seinem Kopf zählte? Schließlich konnte er die Entscheidung nicht ewig abhalten. Er atmete durch den Mund aus und öffnete wieder seine Augen, um der Seufzer-Nebelwolke nachzublicken. 130. Ein schüchternes, verträumtes Lächeln fand seine Lippen. Eigentlich war es ja leicht. Nur ein Schritt, vielleicht zwei, von wo er gerade stand. Der nächste Zug würde bald kommen. 131. Langsam wurde er sich seiner Umwelt bewusster. Misstrauisch blinzelte er um sich. Ob die Menschen es ihm ansahen? Sah er es sich selbst an, dies, welches er vorhatte? Ihm war so kalt. 132. Genug, ausreichend, nicht mehr wollend. Er könnte alles zurücklassen. Dann hätte er nicht mehr genug. Und wohl erst recht nicht mehr genug davon, dass er genug hatte. 133. Er könnte es tun. Wenn er jetzt wollte, könnte er es tun. Auf einmal war es real, echt, so da, dass er einen Schritt zurücknahm. 134. Es war viel Zeit vergangen, seitdem er hier, am Bahnsteig, vor der Sicherheitslinie stehengeblieben war. Seine Glieder schmerzten. Er fand dumpfe und kalte Luft um ihn. 135. Ob er es je bereuen würde? Nein, bestimmt wäre es dort, wo immer es auch sei, besser. 136. Eine Frauenstimme verkündete die bevorstehende Einfahrt des Zuges. Die Destination klang schön, und weit weg. Mit zaghafter Selbstsicherheit trat er wieder einen Schritt vor, diesmal die Sicherheitslinie fast provozierend überschreitend.
137. Er konnte den Zug schön hören. Es wurde lauter, immer lauter, bis der schreiende Lärm nicht mehr auszuhalten schien. Eisiger Winterwind schlug ihm ins Gesicht und blies grob durch seine Haare. 138. Genug bedacht, genug des immerzu Genughabens und des Genughabens des Genughabens. 139. Der Zug war zu sehen. Genug, er hatte eine Entscheidung gefasst.
140. Er stieg ein.
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