Wohin laufe ich eigentlich?
Ich sitze in meinem mittlerweile viel zu engen Zimmer. Eine Uhr tickt, obwohl sich hier noch nie etwas derartiges befunden hat. Tick, tack, tick, tack, tick, tack und so weiter. Eine Stimme, die mich antreibt, immer weiter, immer weiter, immer schneller, immer schneller, wobei sie immer lauter wird. Immer lauter, immer lauter, immer intensiver, immer intensiver. Genauso verhält es sich mit dem Ticken meiner imaginären Uhr, zu der jetzt noch ein imaginärer Antreiber dazukommt, der mich anschreit, jetzt bloß nicht einzuschlafen, weil ich sonst mein Tagespensum und die Deadline nicht schaffe. Wenn ich die Deadline nicht schaffe, wirke ich unzuverlässig. Wenn ich unzuverlässig wirke, bekomme ich keinen guten Job, wobei auch Menschen, die alle Deadlines einhalten, nicht immer einen guten Job bekommen, also lieber zwei Wochen zu früh als erst am Abgabetag abgeben, dann könnte sich das mit dem Traumberuf vielleicht irgendwie ausgehen. Hauptsache, ich schlafe auf keinen Fall ein. Ignoriere bestenfalls, wie ich mich fühle, tausche also mein Leben als Mensch gegen das einer akademischen Hochleistungslernmaschine. Mache nebenbei am besten noch jeden Tag zumindest eine Stunde Sport und stelle meine Ernährung um, schließlich will ich das alles ja zu 100%, also weg mit der Stunde Freizeit, die mir vorm Schlafengehen noch übrigbleibt, denn erfolgreiche Menschen gönnen sich bekanntermaßen keine Pausen. Weg mit zwischenmenschlichen Beziehungen, sozialen Interaktionen, Pausen, Entspannung und was es sonst noch an Ablenkungen gibt, die mir meine Zukunft verbauen könnten. Das Ganze dann am besten mein ganzes Leben lang durchziehen. Gefühle? Unwichtig. Mentale Gesundheit? Spielt doch sowieso keine Rolle. Auf mich selbst achtgeben? Ist nicht. Meinem Gehirn eine Pause gönnen und zulassen, dass die anderen mich überholen? Kommt nicht infrage. Selbst während dem Schlafen wird selbstverständlich noch jemandem zugehört, der mir verrät, wie ich aus meinem langweiligen Alltagstrott ausbrechen und schlussendlich meinen Traum als unabhängiger Multimillionär im Steuerparadies auf irgendeiner Südseeinsel leben kann. Hauptsache endlich frei und finanziell unabhängig sein – Moment mal –
Warum bin ich auf einmal so müde? Woher kommt dieses Stechen in der Brust … und die Magenkrämpfe? Ganz zu schweigen von den Kopfschmerzen. Irgendwie ist mir schwindlig. Wann hab‘ ich eigentlich zum letzten Mal was getrunken? Und geschlafen? Meine Augenlider … Ich kann sie kaum noch … offen … halten.
Dunkelheit.
Dunkelheit. Stille. Krankenhaus.
Keine Chance.
Und kurz bevor mein Herz ein letztes Mal schlägt, die Erkenntnis: Ich kann den schnellsten Marathon der Welt laufen, das Gaspedal bis zum Anschlag durchtreten und trotzdem noch die Kurve kriegen, einen Hamburger in weniger als fünf Sekunden essen und, während ich vorm Nachbarshund weglaufe, einen neuen Weltrekord über fünf Kilometer aufstellen, aber wenn ich dann besoffen vom Auto überfahren werde, bringt mir das alles einen Scheißdreck.
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