woke
Spät ist es schon. Durch dunkles Wetter lässt der Zug für mich die Landschaft vorbeiziehen, der Kopf schmerzt von der Geschwindigkeit. Ich schaue mich um. Da vorn, Cargohosen, die Frau hält ihr Kind ganz fest, es wärmt sich an ihr. Ganz mürrisch schaut der Kleine aus. Blick nach draußen, wo sich die Mutter im Fenster spiegelt. Sie versucht, mit Grimassen zu bespaßen, er aber verbleibt ganz selbstsicher in seiner grimmigen Welt.
Gleich dahinter, gelbes Hemd. Unter krausig-grauem Haar verstecken sich zwei Augen, die blättern in einem weichen, kargfarbig bedruckten Cover. Man hört das Umblättern, sieht die fliegenden Buchstaben umschwenken, weiter auf zwei Studenten, sie sind im Gesicht fast schon historisch kämpferisch bemalt und tragen eine Unzahl an Taschen mit Papier. Der Mann gegenüber: Er hält seine Aktentasche auf seinen Oberschenkeln gestützt, diese galoppiert mit dem Zug auf und ab. Ein „ping“ ertönt, der Mann erschafft ein Handy aus der Tasche hevor, dabei kam der Ton von ganz woanders, von der jungen Frau schräg links. Sie bemerkt das zunächst gar nicht, erst beim dritten oder vierten „ping“ lässt sie die Aufmerksamkeit von ihrem Hund und tippt kurz was ein. Reizend, dieser Hund, düstere Nebelglubscher, die sehen mitten in die Seele hinein. Die Augen verschmelzen mit dem Spiegelbild der Mutter im Fenster, in der Bewegung werden sie zu einer Allee. Diese wandert den Bahndamm auf und ab, sie springt und tanzt und schreit ganz laut.
Ich glaub, ich träum. Bäume können doch gar nicht schreien, nicht tanzen, nicht springen, nicht wandern. Wenn, dann würden die das doch schon die ganze Zeit tun. Wegrennen von hier, wo sie verzweifelt mit lautem Gequietsche den Restlärm bekämpfen. Jetzt bäumen sie über, sie greifen in den Zug. Der Mann schaut auf, dann das Buch, das Kind, die Mutter fast zugleich. Träumen sie auch? Der Hund hat Grauen Star.
Ich habe sie geträumt. Ich sehe sie aber. Bin ich aufgewacht, bin ich überhaupt eingeschlafen? Ich träume vom Tun. Hokus, pokus, möchte ich sagen. Die Bäume drängen zurück. Sie breiten sich aus. Der Zug fährt langsam im Bahnhof ein. Das Kind hält den Hund nun mit den Armen umfasst. Wir sind nicht mehr im Zug, aber alle im selben Boot. Im selben Traum von einer Welt, die weise, die kämpferisch ist, die liebevoll, die warm ist. Tun wir was dafür?
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