Wollene Winde und wallende Fäden.
Sie war hier seit ich mich erinnern konnte, in ihrem Schaukelstuhl aus Korb – die alte Dame mit ihren Nadeln. Äußerlich sah man ihr ihre Stärke nicht an, dunkelbraunes Haar, ein Gesicht, das jede zweite Person, die einem auf der Straße begegnete, trug. Sie sprach nicht, blickte nicht auf, ich wusste, dass sie meine Gegenwart fühlen konnte, dass ihr bewusst war, dass der Junge mit den grauen Augen jeden Tag um dieselbe Stunde hinter ihr stand und zusah, wie ihre Hände mit dem wollenen roten Faden einen Schal strickten.
Ich wusste, dass sie besonders war, weil sie diese Ruhe, diese nie endende Geduld besaß. Deswegen hatte ich sie in diesem Zimmer vor dem beschlagenen Fenster eingesperrt, sie dazu gezwungen, in ihrer Bewegung einzufrieren. In einer Art und Weise war sie es die mich am Leben hielt – immer im Tun, obwohl der Schal in ihren Händen nicht zu wachsen schien.
Ich weiß, dass es eigentlich zu spät war Erkenntnisse über sie zu fassen. Schließlich war sie schon seit Ewigkeiten da. Schließlich hatte ich mich unterbewusst mit ihr beschäftigt. Schließlich war sie die Verkörperung der Zeit selbst.
Würden ihre Fingerkuppen aufhören, die Maschen von der einen Nadel zur nächsten zu schieben, müsste ich diesen Raum verlassen. Mit ihr würde die Ruhe verschwinden, und mit dieser Ruhe wiederum würde das Chaos, das sich vor der Tür angesammelt hatte, über mich hereinbrechen.
Obwohl ich das wusste, stand ich hier – näher an ihr, als ich je gewesen war, und doch seelisch weiter entfernt. Denn wäre ich in ihrem Kopf, so würde ich mich selbst davon abhalten, meine Hand auf ihre Schulter zu legen, durch ihr Haar zu streifen und …
… mit den Fingern durch den kalten Wind zu fahren, der sich über meine Hand gebildet hatte, weil ich die Luft um mich herum zerschnitten hatte. Doch nicht nur der Sauerstoff war von meiner Hand verletzt worden.
Die alte Dame – jetzt wünschte ich mir, ich hätte ihr einen Namen gegeben – verschwand. Mit ihr verschwand die Ruhe nicht wie erwartet, sie teilte sich auf. Ich wusste viel, doch ich weiß nicht, wieso ich sehen konnte, wie alles, was ich seit meiner Geburt aufgestaut hatte, entfloss. Die Zeit begann langsam, durch die Welten zu reisen, und das Tempo, in dem sich meine Füße bewegten, war dasselbe wie das, das die alte Dame und ihr roter, wollener Faden – der sich durch jede Geschichte, die jemals geschrieben werden wird, ziehen wird – in ihrem Tod angenommen hatten.
„Auf Wiedersehen, kleiner Wolf.“
Mit diesen Worten verschwand sie vollends. Ihre Präsenz glitt zwischen meinen Rippen hindurch, und mit ihr begannen sich die Autos um mich herum zu bewegen.
Ich verließ mein Haus, so wie ich es immer getan hatte. Doch die Ruhe in mir war verschwunden. Sie war auf meine Umgebung aufgeteilt worden. Jetzt war die Welt anders – jetzt, wo ich das Geheimnis der Dame geteilt hatte, war das Gewicht, das ich durch die Wahrheit auf meinen Schultern tragen musste, nur noch halb so schwer, weil ich nicht alleine war.
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