Wort
Jenes Wort prägte sich markant in ihr Bewusstsein. Anfangs nur leicht, kaum da, kaum bemerkbar, doch als die Zeit voranschritt immer tiefer, tiefer als es möglich erschien, bis es sich eines Tages festsetzte und nurmehr undenkbar weichen konnte. Für sie war dieses Tief ein unvorstellbares, nicht vergleichbar mit dem äquivalenten Wort ihrer Muttersprache, einer Sprache, deren glorreiche Seiten ihr Leben so selten beglücken sollten. Qualvolle Tage gefolgt von schlaflosen Nächten riefen dieses Wort immer wieder herbei, immer wieder trat es in ihren Sinn. Wieso wagte sie nicht etwas zu unternehmen, sich loszureißen? Die Anzahl der verwirrten Stimmen stieg täglich, abermals bewarfen sie sie mit diesen Fragen. Sie suchten sie heim, weckten sie in der Nacht auf, flüsterten ihr ins Ohr bis sie schreien konnte. Dann kamen die Selbstzweifel. Diese gaben ihr nicht nur ihre Selbstachtung zu bedenken, sondern auch ihre Ehre. Für ihre Familie heilig, man könnte meinen das oberste Gebot. Steckte sie wirklich in einer so aussichtslosen Situation? Steht es in ihrer Macht etwas zu unternehmen? Doch wie ein Alkoholiker sich seiner Sucht zu verteidigen vermag, so verdrängte sie diese Fragen bis an die Ränder ihres Bewusstsein. Dort verblieben sie für lange Zeit, denn sie schämte sich, ja schämte sich vor sich selbst, ihrer mickrigen Existenz und bestritt ihre Zweifel vor dem strengsten Urteil. Dem Ihrigen. Befangen von ihrer Welt, ihrer selbstverschuldeten Lage stand sie nun da, Tränen liefen wie Bäche ihre Wangen herab. Sie dachte lange nicht mehr daran, dachte sie wollte nun ihr Leben beenden, der Zeitpunkt des Nichts, der gähnenden Leere vor der sie sich ihr Leben lang fürchtete, war nun da. Da kam es ihr wieder in den Sinn. Das Wort. Ihr einziger Funke Hoffnung, der sich Jahre lang wie ein Keim aus der Erde wand, die Erde, die Verdammnis. Der sich wie ein Raubtier um seine Beute schlich, der sich wie ihre Verräter versteckte und dennoch immer präsent war. Sie atmete tief ein, so tief, wie sich einst das Wort in ihr Bewusstsein prägte, so tief wie ihre Verletzungen mit der Zeit schnitten, so tief wie sie noch nie geatmet hatte. Es war so weit, der Gedanke wandelte sich zur Realität um. Schreiend stürzte sie sich Hals über Kopf aus der gefängnisartigen Lage, die sie Jahre lang als ihre Existenz hinnahm. Sie dachte, das wäre es, besser könnte es für sie nicht enden, besser in einem relativen Sinne. So, schließlich, rettete ihr dieses einzelne Wort, erlernt durch die Mörder ihrer Freiheit, an welches sie sich klammerte wie einst an ihre Mutter, das Leben. Sie wird es nie wieder vergessen, denn die Tiefen, die es für sie erreicht hatte, wurde sie nie wieder los. Flucht.
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