Worte, Schritte und Scherben
Ich atme ein letztes Mal durch und betätige die Klingel. Heute ist der letzte Tag, die letzte Chance, dich endlich wieder zu sehen, so, wie du früher warst. Wie ich dich in Erinnerung habe. Ich werde es entweder schaffen oder alles verlieren.
Jemand dreht den Schlüssel im Schloss und die Tür schwingt auf. Deine Mutter tritt heraus, mit müden Augen, und lächelt mich an. Schon lange hat sie mich nicht mehr gesehen.
"Komm herein", sagt sie, ihre Stimme freundlich, sie weiß, wieso ich hier bin. "Sie ist in ihrem Zimmer. "
Dankbar nicke ich und trete ein. Mit steifen Fingern umklammere ich das in Papier eingewickelte Geschenk. Lila, deine Lieblingsfarbe. Ich habe an alles gedacht, jedes Detail. Du magst keine Schleifen. Das weiß ich. Und zum Geburtstag muss es perfekt laufen. Keine Schleifen, lila. Auf leisen Sohlen schleiche ich zu deiner Zimmertür, die jetzt schwarz gestrichen ist, pechschwarz. Wie die Dunkelheit, die dich in den letzten Wochen umfangen hat. Aber heute hast du Geburtstag. Heute habe ich Hoffnung auf Licht.
Kurz vor der Klinke hält meine Hand inne. Soll ich das wirklich tun? Ich kann die Stimmen der anderen hören, das dunkle Lachen deiner neuen Freunde. Aber ich muss es tun. Für uns. Für dich.
Ich drücke die Klinke herunter und trete ein, ohne anzuklopfen, du hast noch nie viel davon gehalten. Augenblicklich wird es still. Alle schauen zu mir auf, es ist ein merkwürdiges Gefühl. Ich konzentriere mich nur auf dich, wie du mit den anderen im Kreis am Boden hockst, einen Energydrink in der Hand.
Schweigen.
Ich beschließe, es einfach zu versuchen. Keine Erklärung. Kein Gruß. Nichts.
"Alles Gute zum Geburtstag", sage ich und reiche dir das Geschenk. Du nimmst es in eine Hand, und ich sehe, dass du sofort erkennst, was es ist. Ein Album. Ich habe mich bemüht. Unsere besten Fotos, die glücklichsten Momente, alle eigenhändig eingeklebt. Auf jeder Seite wartet ein neuer Tag, eine weitere Erinnerung, ein Stück unseres Lebens. Früher hättest du dich gefreut, wärst mir um den Hals gefallen und hättest dich stürmisch bedankt.
Aber du sagst nichts. Du starrst nur weiter zu mir hoch und wartest, bis die unendliche Stille mich zu erdrücken droht. Nichts ist schlimmer als das, dieses Warten, diese Folter, der Moment, der alles entscheidet. Ich wage es nicht, zu atmen.
Dann erlöst du mich und tötest mich zugleich. Zwei Worte, wie Messerstiche, Scherben, die meine Welt zerspringen lassen. "Geh bitte. "
Zwei Worte, die wie Klingen in mein Herz treiben und mich in die Dunkelheit stürzen, in der du längst verloren bist. Ich drehe mich um und spüre die Blicke der anderen, die sich wie Speere durch meinen Rücken bohren.
Pechschwarze Tür. Geh auf. Geh zu.
Hinter mir fällt die Tür ins Schloss, aber ich kann hören, wie du das Album direkt in den Müll wirfst. Du hast es nicht einmal ausgepackt.
Zwei Worte. Zwei Schritte. Und es war vorbei.
Wie betäubt gehe ich zur Eingangstür. Du hast mich nicht einmal bis hierher begleitet. Also öffne ich die Tür und trete aus deinem Leben.
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