Würfelspielvon Stefanie Hauser
Vier Wände. Ozeanblau mit einer horizontalen weißen Linie - einer Schaumkrone - auf den ozeanblauen Wellen, als wolle sie die Decke küssen. Über dem Bettgestell ein eingerissenes Poster, das dort bereits seit einem Jahrzehnt halbschief herumhing. Hinter mir ein breites Fenster ohne Vorhänge. Es diente meinem abgedunkelten Zimmer tagsüber als Lichtquelle, mir selbst als Stützpunkt. Dort saß ich auch jetzt wieder und starrte hinaus in die Welt der anderen, abgewandt von der Tür, die mich von hinten bedrohlich anstarrte. Ich konnte ihre Anwesenheit erspüren; sie wollte mich hinauslocken… hinaus… Wohin eigentlich? Ich lebte in diesen vier Wänden. Obwohl es das Haus meiner Eltern war, gehörten diese vier Wände mir.
Nur meine Mutter kam mich gelegentlich besuchen, lieferte mir alles, was ich zum Überleben brauchte, warf mir einen hilflosen Blick zu und verschwand wieder, um mich in meinem Alleinsein weilen zu lassen. Dann konnte ich mich erneut meiner Beobachtungsgabe widmen.
Die Straße, die Häuser, die Menschen – ich kannte sie alle auswendig. Tag für Tag studierte ich das Leben, das dort draußen vor sich ging. Wenn morgens die Lichter in den Häusern angingen, war ich bereits wach und beobachtete. Ich beobachtete sie. Sie war vor kurzem in das Haus gegenüber eingezogen. Sie war mir unbekannt, doch fühlte ich mich ihr so sehr verbunden wie niemandem sonst. Manchmal war sie im Garten. Dann saß sie im frischgemähten Gras, das lange, kastanienbraune Haar umspielte locker ihre Schultern und sie las oder hörte Musik. Ich wollte mich ihr nähern, mit ihr sprechen, doch ich konnte nicht.
Das Leben war ein Würfelspiel.
Mein Großvater hatte diesen Satz zum ersten Mal erwähnt, als ich zehn war. Er hatte mir erklärt: „Wenn der Würfel erst einmal am Rollen ist, weißt du nie, was du bekommst.“ Ich hatte genickt. Ich hatte verstanden. Zwei Wochen später war mein Großvater gestorben. Herzversagen.
Alles in allem hatte ich mich immer gut mit meiner Situation abgefunden. Ich lebte vielleicht nicht, aber ich existierte. Mit anderen Menschen hatte ich schon lange keinen Kontakt mehr. Den Abschluss hatte ich meiner Mutter zuliebe gemacht. An einer Schule für „besondere Kinder“. Besonders. Besonders war an mir nichts. Zumindest war es nie meine Entscheidung gewesen. Der Würfel hatte entschieden.
Doch nun beobachtete ich sie und fühlte, dass etwas anders war. Ich war anders. Die Isolation gab mir Sicherheit, stärkte mich, und doch wollte ich zu ihr. Ich wollte es unbedingt. Ich wollte sie kennenlernen, ihre Geschichte erfahren. Ihr Leben, ihre Träume, Ängste, Zukunftsperspektiven. Mein Kopf schien von innen heraus zu zerbersten, sosehr wollte ich. Die Gedanken durchströmten ihn, machten ihn schwer, sodass ich jeden Moment erwartete, er würde ganz abfallen. Wenn er es doch nur täte, dann säße ich jetzt nicht hier und würde mich nicht mit unerfüllbaren Vorstellungen quälen. Mit Vorstellungen, die ich niemals würde verwirklichen können. Denn das Leben war ein Würfelspiel. Mir hatte es das Sprachvermögen weggewürfelt.
Niemals könnte ich zu ihr gehen und mich vor ihr nur mit Händen verständigen.
Niemals könnte ich zu ihr gehen und eine Zurückweisung erfahren.
Niemals… niemals könnte ich…
Sie blickte mich an. Ich schreckte leicht zurück, bereit, aus ihrer Sichtweite zu fliehen. In ihrem Blick lag Neugier. Ein Lächeln. Ich spürte, wie meine Mundwinkel sich unwillkürlich nach oben bewegten. Nur ganz leicht, doch ich wusste, dass sie es sah, denn sie winkte. Sie winkte mich zu sich. Mich. Ich hielt einen Moment inne, realisierte dann, dass ich hellwach war, trat näher an das Fenster heran, zögerte wieder. Ihre Handbewegungen wurden nun eindeutiger und ich sah, wie sich ihre Lippen bewegten. „Komm!“, schien sie zu rufen. „Komm doch!“ Konnte ich es wagen? Hin- und hergerissen blickte ich abwechselnd aus dem Fenster zu ihr, dann zur Tür. Sollte ich…? Ich dachte daran, was mein Großvater gesagt hatte. Das Leben war ein Würfelspiel. Und wenn der Würfel erst einmal am Rollen war, wusste man nie was man bekommen würde.
Und dennoch…
Dennoch war ich der Würfelspieler. Es war an mir zu werfen.
Entschlossen schritt ich auf die Tür zu.
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