Zeitraffer
Der Asphalt war rutschig unter den Sohlen seiner dreckigen Sneaker, mit denen er gefährlich nah an der Kante der Brücke stand. Er kannte diese Stelle an der großen Brücke. Einige Zentimeter wurde das Geländer an dieser Stelle nicht weitergeführt. Gerade einmal so breit, dass seine Füße reinpassten. Vor dieser Stelle stand ein Warnschild und die Autos wurden in einem Bogen umgeleitet. Es fehlte nicht nur das Geländer, sondern die Stelle galt als extrem unstabil, da am Unterboden des Asphalts einige Steine abgesplittert waren.
„Fang mich Papa!“, rief eine helle Stimme. Sie war voller Freude und einer Unschuld, die so zerbrechlich war, wie der Asphalt auf welchem Noah gerade stand. Er sah sein jüngeres Ich vor seinem inneren Auge, wie es mit kleinen Fäusten die Seile der Schaukel umklammerte, mit einem Lachen, das viel zu laut für die beginnende Stille des Parks war. Dann ließ klein Noah los. Mit einem lauten, freudesprühenden Schrei sprang er von der Schaukel und bereitete sich darauf vor, von seinem Vater gefangen zu werden. Der Wind umfing ihn sanft, als würde er ihn schweben lassen wollen. Beschützen wollen. Sein Vater, hatte die Arme ausgestreckt und Noah war bereit sich in den Händen seines Papas wiederzufinden. Doch in dem Moment als die warmen Hände des Vaters ihn auffangen sollten, zog dieser seine Arme zurück. Noah sah, wie seine jüngere Version nach unten stürzte und unsanft auf dem nassen Gras aufschlug. Doch statt des Schmerzes des Aufpralls, der seinen Körper in unzähligen Nächten, in denen er sich in den Schlaf geweint hatte, durchzuckt hatte, spürte er nur Gegenwind, als er im freien Fall von dem Rand der Brücke kippte. Der Wind wehte ihm um die Ohren, als wolle er ihn auslachen. Es war kein sanftes Streicheln mehr, sondern kalte, spitze Stiche, die sich wie tausend kleine Nadeln in seine Haut bohrten. Die Welt drehte sich nicht mehr langsam und war nicht mehr in das warme Licht der untergehenden Sonne getaucht, sondern raste an ihm vorbei, als hätte jemand den Zeitraffer auf Maximum gestellt und die einzigen Farben, die er wahrnahm, waren das Schwarz des Wassers unter ihm und der dunklen Nacht. „Fang mich Papa“, das Echo seiner Stimme hallte im Kopf wider. Diesmal nicht als Ruf, sondern als eine verzweifelte Bitte, mit der Stimme von jemandem der schon zu viel erlebt hatte. Ein lauter Schlag von einer Hand, die auf Haut traf, folgte dem Echo und ließ in Noahs Kopf ein weiteres Bild aufblitzen. So, als sei es gestern gewesen. Das Bild seines Vaters wie er in wütender Gestalt über ihm stand. Noah zusammengerollt auf dem alten Holzboden, blutend und mit dem Geruch von Alkohol in der Nase, der wie immer in der Luft der stickigen Wohnung hing, wie ein Geist seines Vaters. Ein Geist, der nie verschwunden war und sich in seine Seele gefressen hatte. Entstanden als Noah erst 3 Jahre alt gewesen war. Mit einem Aufprall der nicht tödlich gewesen war, aber endgültig. Endgültig für Vertrauen. Endgültig für das unbeschwerte Lachen eines Kindes.
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