Züge sind poetisch
Vielleicht siehst du am Anfang nur eine Hülle aus rot lackiertem Metall, mit minderwertigen Stoffbezügen und langsamkrümelnden Plastikdichtungen. Eine Röhre mit Kaugummiresten am Kunststoffboden, die im Tempo 100 über Schienen schießt, also scheinbar nichts als Grind auf Rädern. Vielleicht hat es anfangs den Anschein, dass Züge nur eine Ansammlung zusammengeschweißter, angemalter Hartplastik- und Weichmetallbauteile sind. Aber siehst du genauer hin, dann sind sie tatsächlich äußerst poetisch.
Es ist mir letztens erst aufgefallen. Am Weg zu einer Freundin, den Rucksack neben mir, den Kopf ans Fenster gelehnt, Augen mal da mal hier. Dann sehe ich einen Handabdruck, Schweiß am Fenstergriff und mir fällt die Poesie auf. Es ist die Wärme die von allen Sitzen aufsteigt. Wärme, die an Menschen erinnert, die hier länger schon nicht mehr sitzen. Ein Glühen, dass dem dunkelblauen Sitz etwas Menschliches anhaften lässt. Aus dem Spalt zwischen Plastik und Fensterglas tropft die Erinnerung an alle Orte, an denen dieser Zug schon war, in der rechten unteren Ecke hängt ein Regentropfen aus Salzburg, ein Krümel von der Bäckerei Obertulln versteckt sich noch in der Ritze zwischen Armlehne und Sitzfläche. Überall findet man kleine Spuren, dass diese Hülle Menschen beherbergt. Kleine Leuchtlichter zwischen monochromem Kunststoffformen. Kleine Hinweise darauf, dass dieser Zug uns zu unseren Wünschen zieht.
Es sind so viele Menschen die hier Tag um Tag sitzen, sich um genau eine Station verpassen, sich für genau eine Station kennen. Zellerndorf bis Retz, meine Bahnbekanntschaft verlässt mich bald.
Aber für einen Moment laufen wir im selben Tempo.
Eine junge Frau, die hektisch durch den Lichtsensor wedelt, um sich noch im letzten Moment durch die Türen zu quetschen. Sie ist wohl gerannt, Tempo 10, wie man halt rennt, wenn man zu spät kommt aber die Frisur doch sitzen muss. Ich hingegen bin schon am Bahnsteig gestanden, lange bevor mein Zug kam. Hab das Gewicht auf den einen, auf den anderen Fuß verlagert. Hab zwei Schritte vor, zwei Schritte zurück gemacht. Beim Quietschen des einfahrenden Zuges habe ich aufgeblickt und mich schon mal zum Rand gestellt, alles langsam, ganz langsam. Heute ist ein Tempo 2 Tag.
Jetzt sitze ich hier am Sitz, und sitzend verrenke ich auch meinen Hals, bis sich die Frau, im Stechschritt auf mich zukommend, doch auch fürs Sitzen entscheidet. Dann werden wir beide im genau selben Tempo vom Zug durch das Dunkel des Tunnels gezogen. Unsere Blicke in dieselbe Richtung gerichtet, vorne, unser Atem im selben Takt, unsere Herzschläge nähern sich langsam an, als sie immer ruhiger und ruhiger wird. Und der Zug zieht uns mit Tempo 100 durch das Dunkel.
Er bringt uns Menschen in ein Tempo, er bringt uns einander gleich. Wenn du das Dunkel betrittst, du in den Zug steigst, kannst du nichts mehr tun. Egal wie eilig du es hast, egal wie viel Zeit dir bleibt, der Zug fährt sein Tempo 100 und nimmt dich mit.
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