Zitronen ohne Küsse
Keine Zitronenküsse für Simone.
An den Händen herabrinnender Zitronensaft, gelbe Frucht in der Abwasch, weil die Flüssigkeit in den Augen brennt. Dann eben ohne Zitrone.
Zitronenküsse ohne Zitrone sind auch nur simple Küsse, aber die bleiben bei Simone schon seit längerer Zeit aus, weil Daniel das Fortbestehen ihrer Fernbeziehung aufgrund der zeitlich unbegrenzten Regelungen als unrealistisch erachtet. Er hat weder WhatsApp noch Microsoft Teams; dann eben ohne ihn, Simone ohne Daniel ist immer noch Simone, nur in single und meistens in einsam.
Schwere Zeiten für Simone. Keine Prüfungen im Studium, dafür sehr viel Bildschirmzeit, C 8 H 10 N 4 O 2, zuerst war Simone erleichtert, für die erste Zeit ist der Stress nämlich vorbei, aber dann hat sie gemerkt, dass die sp2-Hybridisierung von Kohlenstoff doch nicht so leicht zu merken ist, wenn das Mikrofon von Professor König dauernd auf stumm geschaltet und sie am Schreibtisch kurz vorm Einschlafen ist.
Fünf Tage, vierzig Stunden: Jeden Tag der gleiche Scheiß, fünf vor sieben, Kaffee noch heiß. Am Hauptplatz vor dem Fenster stehen um diese Zeit normalerweise schon Adventmarktstände; Chai Latte mit Zimt wäre jetzt wirklich schön.
Kein Adventmarkt für Simone. 15: 54 Uhr, kein Hunger, nur leichtes Magenknurren, der Appetit ist nämlich schon seit Wochen verloren. Ein Essiggurkenglas im Kühlschrank, Ablaufdatum Anfang Dezember.
Es ist der Dreiundzwanzigste.
Zwei Essiggurken wie fette Nacktschnecken im Glas, eine holt Simone mit einem Buttermesser heraus. Jetzt fühlt sich die andere so einsam wie sie.
Ach, was denkst du da für einen Blödsinn? Schau dich doch an, ungekämmt und unfrisiert, so hoffnungslos und zugleich hoch kompliziert. Appetitlos, aber ungesättigt, nicht himmelhochjauchzend, aber auch nicht zu Tode betrübt.
Keine Gesellschaft für Simone. Hin und wieder ruft ihre Mutter an, doch da geht Simone nur noch höchst selten ran, weil sie sich keine Verschwörungstheorien und unheilvolle Botschaften mehr anhören kann.
Ihre Freunde hat sie schon lange nicht mehr gesehen, weil die einfach nicht verstehen, dass Simone in Pixeln allerhöchstens eine Spiegelung von Simone am Adventmarkt ist und sie auch keine Lust mehr hat, bei Kuchen und Wein allein im Kerzenschein digital Mensch- ärgere- dich- nicht mit ihnen zu spielen und trotzdem dabei noch alleine zu sein.
Simone ist so müde.
Kein Weihnachten mehr weit und breit, nur Schnee statt Matsch, verbrannte Kekse, Einsamkeit. Die Eiskristalle am Fenster hat sie selbst mit Permanentmarker dort raufgemalt, den Stift hat Daniel gezahlt.
Simone will nur noch schlafen.
Vielleicht schütteln viele den Kopf über sie,
verdammt, wir sind in einer Pandemie.
Kein Adventmarkt, aber auch kein Corona
Simone liegt in ihrem warmen weichen Bett und nicht am Beatmungsgerät,
für viele andere hingegen ist es vielleicht schon zu spät.
Winterdepressionen hat doch jeder mal;
das ist jetzt wirklich nicht fatal.
Kein Verständnis für Simone.
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