Zugspitzensignale
Die Nacht zog sich, wie jeden Abend, durch Blätter, Laub und Gräser bis an den Himmel, wie sie es schon Millionen Male davor getan hatte und noch Millionen Male tun würde. Sie überraschte ihn jeden Tag aufs Neue, wenn er so dasaß, verträumt auf die Stadt blickte und sich sein Leben zurückwünschte. Seine Augenlider waren schwer, so wie er es gewohnt war und die Stimme ausgebrannt von Sprache und Rauch. So wie er sitzend seine letzte Zigarette entzündete verschwammen die Bilder vor ihm und schickten ihn auf eine lang ersehnte Reise. In Gedanken versunken versuchte er den Tag Revue passieren zu lassen, was ihm auch nach vergeblichem Ringen nicht gelang. Er war zu leblos und die Nacht zu tiefschwarz, um dem kläglichen Scheitern der Existenz ein Bild zu schreiben. Die Realität verschwand im blassgrauen Dunst und schärfte seinen Blick für die andere Welt. Die Schmerzen würden gleich nachlassen, nur um ihn kurze Zeit später mit voller Härte zu treffen, er hatte dies schon unzählige Male erlebt.
Fest entschlossen fasste er an seine rechte Hosentasche, um den zerknitterten Brief hervorzuholen, denn dieses eine Mal war er sich sicher. Das Szenario spukte ihm seit Monaten durch den Kopf und nun war er kurz davor seinen Geist zufriedenzustellen, kurz davor Glückseligkeit zu erlangen. Er entzündete seine nächste letzte Zigarette und richtete sich bedächtig auf, die Beine schwer wie Blei und quasi unbeweglich. Mit gesenkten Schultern schritt er in Richtung Postkasten, hielt andächtig vor jenem. Er wartete kurz auf einen Anruf oder ein Lebenszeichen seiner großen Liebe, bevor er den alles erklärenden Brief durch den Schlitz schob und damit sein Schicksal besiegelte. Ein kurzer Blick auf seine Analoguhr verriet ihm, dass es genau zehn vor zwölf war. Zeit aufzubrechen.
Ermutigt durch den Brief hopste er nun leichtfüßig durch die mittlerweile stockdustere Nacht, beleuchtet von einsam platzierten Straßenlaternen. Er hatte Mitgefühl, denn Wind und Wetter waren nicht spurlos an ihnen und an ihm vorübergegangen. Mit zerzaustem Haar erreichte er schließlich den vertrauten Platz. Er war hier schon so oft gewesen, vermutlich schon zu jeder Tages- und Nachtzeit, immer diesen einen Gedanken im Hinterkopf. Von Weitem hörte er schon leises und regelmäßiges Rattern. Ein guter Klang, welcher ihm außerordentlich gefiel. Seine Uhr stand mittlerweile auf einer Minute vor zwölf und mit jeder Bewegung des Sekundenzeigers beschleunigte sich sein Puls.
Plötzlich sah er die drei Lichtkegel groß vor sich und sein Herz raste förmlich vor Freude. Er würde springen. Er nahm Anlauf, den Tod vor Augen und wollte mit einem Satz in das ihm rasend schnell entgegenkommende Licht springen, doch seine Beine versagten ganz ohne Vorwarnung ihren Dienst und ließen ihn stolpern. Die hell erleuchteten Waggons rasten vorbei und er richtete sich schlagartig auf, nur um kurz darauf wieder auf die Knie zu sinken. Von Weitem hörte er noch leises und regelmäßige Rattern.
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