Zukunft im Jahre 1889
Er hätte aus so vielen wählen können. Er hätte Schillers „Wilhelm Tell“ oder Hauffs „Kaltes Herz“ auswählen sollen, wie es die anderen getan hatten. Doch er entschied sich für das kleine, an den Rändern bereits angerissene Büchlein, das dort, ganz einsam, im letzten Eckchen stand. Es sah so aus, als wäre es seit Jahren nicht mehr benützt worden. Als wäre es vergessen worden, im Schatten der neu glänzenden, in Lederriemen eingefassten Büchern, die stolz in der ersten Reihe des Regals mit ihrem Aussehen prahlten. Irgendwas hatte es, dieses Buch, das ihn anzog. Es war, als würde das Werk ihn in einen Sog bringen, aus dem er nicht mehr entkommen könne. Also nahm er es in die Hand und ein warmes, herzhaftes Gefühl schoss in seine Adern. Er versuchte, so zu tun, als wäre nichts geschehen, doch seine Augen verrieten einiges. Er gab das Büchlein dem Bibliothekar, um es als sein eigenes, wenn auch nur für drei Wochen, bezeichnen zu dürfen. Am gleichen Abend, es war schon etwas später, beschloss er das Buch aufzuschlagen und ein paar Seiten zu überfliegen. Als er die ersten Zeilen gelesen hatte, war er wie in einer Trance gefangen. Die Geschichte erzählte von den Mächten der Zukunft, dass die Welt ein wahnwitziger Ort werden würde. Sie berichtete von großen, fliegenden Objekten, fahrenden Kisten und etwas, dass reden konnte, doch in keiner Weise human aussah. Doch plötzlich riss die Geschichte ab, denn er klappte das Buch zu, er wollte nicht wahrhaben, was er gelesen hatte. Angsteingeflößt legte er sich schlafen. Kaum war er eingenickt, träumte er wieder und wieder davon. Von den riesigen Dingen, die sich wie ein Adler edel durch die Luft bewegen. Er schrak auf. Er nahm einen Zettel zur Hand, denn ihm war ein Wort eingefallen, welches diesen metallenen Vogel beschreiben könnte. „Flugzeug“, notierte er sich mit bleischweren Augen, die drohten, in kürzester Zeit wieder zuzufallen. Die restliche Nacht blieb ereignislos. Es war der nächste Tag angebrochen. Ihm war aufgefallen, dass er noch nicht weiß, welchen Autor das Büchlein hat. Normalerweise sieht er immer zuerst nach dem Autor, wenn er sich ein Buch ausleiht. Er inspizierte den bereits mit Eselsohren versehen Umschlag, doch er konnte keinen Verfasser finden. Etwas verwirrt, versuchte er wieder, an der Stelle anzuschließen, an der er aufgehört hatte. Wieder offenbarte ihm das Geschriebene unvorstellbares. Kilometerhohe Bauten bohrten sich geradewegs in den Himmel, von der Perspektive eines Menschen aus unendlich wirkend. Wieder schreckte er auf und saß kerzengerade in seinem Bett, und immer noch wollte er nicht glauben, was er im Traum gesehen hatte. Am gleichen Tag beschloss er, seinen Lehrer darüber zu informieren, und sich Meinungen einzuholen. Der Lehrende antwortete, wenn auch etwas zurückhaltend, mit einem Wort, was er niemals vergessen werde. „Zukunftszauber“.
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