Zwei Seiten
„Genug“, sagte das Mädchen.
Das Mädchen, das bereits seit mehreren Stunden in ihrem pinken Ballettkleid tanzte. Das Mädchen, das davor den ganzen Nachmittag Piano gespielt hatte. Ihre Füße und ihre Finger schmerzten täglich, meist konnte sie sie abends nicht mehr spüren, und doch musste sie noch ihre Schularbeiten erledigen. Bis spät in die Nacht. Freunde hatte sie keine. Dafür war keine Zeit. „Genug“, wiederholte sie, doch ihre Stimme war nicht lauter als ein Flüstern.
Niemand hörte auf sie. Nicht ihr Vater, wegen dem sie Piano spielte. Nicht ihre Mutter, wegen der sie zum Ballettunterricht ging.
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„Genug“, sagte der Junge. Der Junge, der beinahe täglich in den Mülleimer gestopft und in der Toilette eingeschlossen wurde, dessen Sachen aus Spaß aus dem Fenster geworfen wurden. Der Junge, der beim Sportunterricht absichtlich abgeworfen wurde, der für seine Liebe zu Büchern ausgelacht und sein ganzes Leben nur beleidigt wurde. Er sprach nicht mehr oft. Er hatte noch nie viel gesprochen, doch nun tat er es fast gar nicht mehr. Er hielt seinen Kopf unten, sah niemanden an. Nicht einmal sich selbst. Vor allem nicht sich selbst. „Genug“, sagte er ein weiteres Mal.
Niemand hörte auf ihn. Nicht die Kinder, die ihn zu ihrer eigenen Belustigung auslachten. Schließlich betraf es sie nicht. Nicht seine Eltern, die das Verhalten ihres Sohnes als Phase bezeichneten, die bald vorübergehe. Nicht seine Lehrer, die ihm schlechte Noten gaben, weil er im Unterricht nichts sagte.
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„Genug“, rief ein anderes Mädchen. Das Mädchen, das jeder kannte und über das jeder redete. Das Mädchen, das zur Schülersprecherin gewählt wurde, das gute Noten hatte, das jedes Wochenende zu einer anderen Party eingeladen war. Das Mädchen, das jeder als selbstbewusst, als fröhlich, als ehrgeizig kannte. Das Mädchen, das dem Druck trotzdem nicht standhalten konnte. Keiner glaubte ihr, wenn sie die Worte sagte. „Ich habe genug.“ Schließlich hatte sie alles. Ein gutes Leben, gute Noten, eine Zukunft.
Niemand hörte auf sie. Nicht ihre vielen Freunde, die nur eine Seite von ihr kannten. Nicht ihre Eltern, die durch ihren Stolz nichts Anderes sahen. Nicht ihre Schwester, die nur mit ihr redete, wenn sie jemanden brauchte, der ihre Hausaufgaben machte.
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Hinter jedem genug steht eine eigene Geschichte. Mal eine Alltägliche, man hat genug Butter, genug zu tun, genug eingekauft. Oder eine, die viel tiefer geht als das. Genug vom Leben. Genug von allem.
Das Wort ist vielschichtig, es hat zwei Seiten. Doch nur Wenige kennen tatsächlich diese zweite Seite, dessen Bedeutung für Viele nur schwer in Worte zu fassen ist.
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