Zwei Worte, die beide nutzten
Bemüht leise stieg sie die alte Holztreppe zu ihrem Zimmer nach oben. Wie oft war sie hier eigentlich schon hochgeschlichen? Oft genug auf jeden Fall, um die knarrenden Bodendielen zu kennen, und doch trat sie jedes Mal auf die dritte Stufe von oben. Wie zu erwarten, gab diese ein ächzendes Knarren von sich, welches dem Mädchen so laut erschien, dass man es bestimmt bis ins Nachbarhaus hören konnte. Nun, mit noch schnellerem Puls, erklomm sie die letzten Stufen und war endlich oben angekommen. Mit dem Schließen der Tür breitete sich ein angenehmes Gefühl der Erleichterung in ihrer Brust aus. Ihre Mission war erfolgreich.
Der nächste Vormittag verlief genauso, wie der zuvor. Die drei Tassen Kaffee, eine in der Früh und drei in der Schule, waren jeweils das Highlight, während das Fertigmittagessen bestehend aus Fischstäbchen oder Tiefkühlpizza wenig Abwechslung bot, doch frisch gekochtes Essen der Mutter kam nicht infrage. Den gesundheitlichen Aspekt beachtete sie wenig, irgendwo muss man schließlich Prioritäten setzten. Der nächste Morgen jedoch durchbrach die bereits zur Routine gewordene Eintönigkeit. Bevor das Mädchen noch die erste Tasse Kaffee genießen konnte, kam die Mutter in die Küche. Schlimm, doch noch war das Worst-Case-Szenario nicht eingetreten, die Mutter hatte immerhin keine Nachtschicht gehabt. Ihre Laune jedoch, war trotzdem miserabel. Das sonst bei einem Treffen der beiden vorherrschende Schweigen war nur von kurzer Dauer, denn auf dem Tisch lag die Post und unter den unzähligen Werbefleiern ein bereits geöffneter Brief der Schulleitung. „Wo warst du? Aus der Stimme der Mutter klang Wut, aber trotzdem weigerte sich das Mädchen zu antworten, oder viel mehr konnte es nicht antworten. „Ich habe dich etwas gefragt.“ Immer noch Schweigen. „Wo warst du!“ „Du weißt, dass ich dort nicht hinkann.“ „Geh bitte, nicht schon wieder. Immerzu sagst du „Ich kann dort nicht hin, ich will dort nicht hin“. Stell dich nicht so an! Jeder Mensch hat es bis jetzt geschafft in die Schule zu gehen, wieso du nicht? !“ Sie hatte mit einer ähnlichen Reaktion gerechnet, nie hätte sie sich plötzliches Verständnis von Seiten der Mutter erwartet, aber erhofft, erhofft hätte es sie sich. Ohne auch nur ein weiteres Wort zu sagen, machte das Mädchen kehrt und ging die vertrauten, knarrenden Treppen in das Obergeschoß nach oben. Obwohl sie sich bereits in ihrem Zimmer befand, wusste sie, dass ihre Mutter ihr nachkam, die dritte Stufe von oben hatte es ihr verraten. Nachdem die Mutter an die Zimmertür geklopft hatte, aber bevor sie etwas sagen konnte, begann das Kind zu weinen. So vieles wollte es seiner Mutter an den Kopf werfen, doch dazu fehlte die Energie. Das Einzige, was die Frau am Flur zuhören bekam war „Geh bitte, bitte geh einfach.“ Wie nicht anders zu erwarten, begab sich die Mutter wieder nach unten in die Küche und das letzte Geräusch, dass an diesem Abend im Haus noch zu hören war, war das irreversible Fallen einer Tür in deren Schloss.
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