Zwischen Freifahrt und Freiheit
Es war für Anfang Oktober ungewöhnlich kalt. Die einzelnen Bäume färbten ihr Blätterkleid langsam, aber sicher rot. Über Nacht hatte es geregnet, die Luft roch nach feuchten Blättern und Benzin. Die Bewohner der Straße hatten sich in ihre warmen Wohnungen zurückgezogen, um das ungemütliche Wetter auszusperren. Die Gegend wirkte verlassen und fast menschenleer. Der einzige Mensch, der zu dieser Zeit draußen war, hastete eiligen Schrittes den Gehsteig entlang. Es war ein Teenager mit schlaksigen Beinen und dunkelblonden Locken, die von der feuchtkalten Luft aufgeplustert und zerzaust waren. Sie gehörte zu den Personen, die relativ unscheinbar waren, nur ihr leuchtendroter Pullover erregte Aufmerksamkeit. Immer wieder warf sie einen Blick über die Schulter, während sie die Straße in schnellem Tempo entlangeilte. Die Zeiger der großen Kirchturmuhr rückten unbarmherzig weiter. Sie machte sich nicht die Mühe, den Pfützen auszuweichen. Der Weg zur Bushaltestelle zog sich immer mehr in die Länge, das schnelle Tempo kostete sie Kraft. Bei der Ampel holte sie kurz Luft und strich sich die losen Locken aus dem Gesicht. Eine lange Autokolonne zog an ihr vorbei, mittendrin ihr Bus. Das Fahrzeug kämpfte sich schwerfällig um die Kurve, beim Einfahren in die Haltestelle fuhr es mit einem unangenehmen Geräusch auf die Bordsteinkante auf. Zischend öffneten sich die Türen und eine Welle an Passagieren schwappte nach draußen. Die Ampel zeigte immer noch rot und sie trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Hastig warf sie einen Blick von links nach rechts. Die Fahrbahn war vollkommen leer, deshalb rannte sie über den Zebrastreifen und versuchte, ihr schlechtes Gewissen zu verdrängen. In letzter Sekunde sprang sie in den Bus. Sie atmete flach, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Im Mittelteil des Busses lehnte sie sich gegen die Faltenbälge und schloss für einen Moment die Augen. Als sie wieder aufblickte, bemerkte sie einen großen, sportlich aussehenden Jungen, der in sein Handy vertieft war. Sie kannte ihn - er fuhr oft mit demselben Bus. Ihre vor Kälte klammen Hände schlossen sich fester um den Haltegriff, während er den Kopf hob und ihr direkt ins Gesicht sah - er musste bemerkt haben, wie sie ihn musterte. Zu ihrer Überraschung lächelte er sie an. Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, als sie unsicher zurück lächelte. Schnell wandte sie sich ab und nestelte nachdenklich am Ärmel ihres Pullovers. Sein Lächeln konnte unmöglich ihr gegolten haben. Wahrscheinlich einem anderen Mädchen hinter ihr. Der Bus leerte sich, der Junge stieg aus. Sie seufzte leise und warf einen Blick aus dem Fenster. Der Himmel war grau und düster, und ihre Laune sank. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, einfach weiterzufahren, bis die Schule in weiter Ferne läge und sie ihre Freiheit genießen könnte. Doch wie jeden Tag blieb es nur bei den aufrührerischen Gedanken. Sie straffte ihre Gestalt, so als zöge sie in die Schlacht, und trat hinaus in die kalte Herbstluft.
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