Zwischen Liebe und Tod
Sie hatte nie das Gefühl, genug zu sein. Aber doch hatte sie immer genug. Genug vom Leben. Wann ist man genug? Und wo ist der Unterschied zwischen genug haben und genug haben? Man kann genug zu essen und genug vom Essen haben, ganz einfach. Hatte sie genug Gründe zum Leben oder hatte sie genug, aus diesen Gründen zu leben?
Ganz egal. Sie hatte genug. Sie stand am Abgrund. Unter ihr ein schwarzes Nichts. Genugtuung breitete sich in ihr aus. Die Welt war grau. Es gab keine Farben. Keine Freude. Wenn sie die Augen öffnete, sah sie nur das Leid und den Schmerz. Sie selbst hatte alles und doch nicht genug. Sie hatte immer das Bedürfnis, noch mehr zu haben zu wollen. Mehr als genug. Genug war nur ein Synonym für: Ich will nicht mehr. Etwas anderes war es nicht. Und sie hatte genug, doch wollte sie mehr.
„Ich weiß nicht, ob ich zu schwach bin, es zu tun, oder stark genug, um es nicht zu tun“, hatte sie vor vielen Jahren zu ihm gesagt. Sie hatte genug vom Leben, doch wollte sie mehr. Sie hatte das Gefühl, nur leben zu können, wenn sie gelebt hatte. Es gab nur eine Sache im Leben, die sich nicht wiederholen konnte. Über die sie selbst bestimmen konnte. Sie hatte sich lebendiger gefühlt als je zuvor. Sie hätte nur loslassen müssen. Es gab nur eine Sache im Leben, über die sie bestimmen konnte. Etwas, das ihr alleine zustand. Vielleicht hatte sie dann endlich genug. Wenn sie gehen würde.
„Sag mir, bin ich zu schwach, um zu bleiben, oder stark genug, um zu gehen?“, flüsterte sie und breitete ihre Arme aus. Der Wind drückte wie eine unsichtbare Wand gegen sie und sie hatte das Gefühl zu fliegen. Die Welt war voll mit schlechten Dingen. Schlechte Dinge, die blieben. Sie war gut. Sie war gut genug, um zu gehen. Sie wollte in dieser Welt nicht bleiben. In einer Welt, in der die Liebe gefror und der Hass entflammte. Uns wurde das Leben geschenkt, weil wir stark genug waren, es aus freiem Willen zu verlassen. Wer das nicht konnte, war nichts weiter, als ein gescheitertes Experiment der Evolution! Man kann nur dann ein perfektes Leben gelebt haben, wenn es abgeschlossen ist. Sonst hat man nicht gelebt. Sie wollte ihr Leben beenden, solange es perfekt war. Und das war es. Aber in wenigen Jahren, vielleicht Monaten, Wochen, Tagen oder sogar Stunden und Minuten würde es das nicht mehr sein.
„Ich liebe dich“, sagte er und riss sie aus ihren Gedanken.
„Liebst du mich genug, um mich gehen zu lassen?“
Er trat neben sie und nahm ihre eiskalte Hand.
„Ich liebe dich genug, um mit dir zu gehen.“ Sie sah ihn verwirrt an. „Lieben heißt nicht zu fragen, welchen Weg der andere geht. Es heißt, mit ihm gehen, egal wohin der Weg führt.“
Das hieß es. War sie egoistisch genug, um sein Leben zu beenden, nur um selbst nicht mehr leben zu müssen? War sie dann noch gut genug, um zu sterben? Sein Weg war nicht ihr Weg.
„Ich gehe nicht mit dir“, sagte sie.
„Und ich bleibe nicht ohne dich“, entgegnete er. „Liebst du mich genug, um zu bleiben?“
Sie atmete tief durch. Sie hatte sich entschieden.
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