Zwischen Wachs und Federn – Sie
Acht Jahre und drei Monate. Er zählt die Wochen, Tage und Stunden. Jede Sekunde so zäh wie hart gewordener Honig. Er wartet. Wartet auf einen ganz bestimmten Moment, von dem er wünschte, er wäre vermeidbar. Sie ist stark, wenn er zerspringt. Sie schreit, wenn er verstummt. Er ist hier. Er wird es immer sein. Angeknackst und lautlos. Sie schüttelt jedem die Hand, lacht mit ihnen, ist mit ihnen da. Jeden Moment in dem er es nicht ist. Nach elf ungelesenen, neunzehn ignorierten und hundertfünfundzwanzig knapp beantworteten Nachrichten kommt der Moment schließlich. Erst schleichend aber doch. Das Telefon klingelt. Der schrille Ton gräbt sich durch seinen Körper in sein Bewusstsein, wie durch weichen Zement und fühlt sich auch nicht anders an. Er kann nicht abheben. Zu viel Zeit hat er verstreichen lassen. Dem glühenden Sand beim Rieseln zugesehen, die Sanduhr unendlich oft gewendet. Hat das Ticken der Uhr ihn verhöhnen lassen. Sein Arm bewegt sich keinen Zentimeter. Er lässt es klingeln.
Sie ist ein Ikarus. Alle anderen sind die Sonne, die Hitze, der Schmerz. Er hat sich geschworen, sich nicht zu verbrennen. Er bleibt auf dem Boden und seine Flügel heil. Sobald er versucht sie zu öffnen, fühlt er es. Geschmolzen, verkohlt, nichts als eine Masse aus Wachs, Federn und einem Splitter seines Spiegelbildes.
Sein Ikarus durfte nicht fallen. Er wollte sie vor dem Sturz, diesem unvermeidbaren Sturz, bewahren. Mehr als alles andere. Doch sie flog. Immer weiter, höher, ein Punkt in der Ferne. Am Horizont. Er auf dem Boden. Zu schwer durch den Zement in seinem Kopf. Er wusste, sie würde fallen. Und nun klingelt das Telefon.
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